Nestlé vor Gericht
Der Schweizer Konzern soll für die mehrjährige Bespitzelung linker Aktivisten zur Rechenschaft gezogen werden
Das Westschweizer Fernsehen TSR machte 2008 öffentlich, dass Nestlé den Attac-Ableger im Kanton Waadt ausforschen ließ. Unter dem Decknamen »Sara Meylan« besuchte eine Securitas-Mitarbeiterin über zwei Jahre Sitzungen der Aktivisten in öffentlichen Räumen und Privatwohnungen. Ziel der Infiltration waren die Arbeiten an dem Buch »Nestlé - Anatomie eines Weltkonzerns«. »Sara Meylan« berichtete ihren Auftraggebern über Autoren, deren Quellen sowie Kontakte in der Schweiz und im Ausland. Wenige Monate später deckte der Sender auf, dass Securitas unter dem Alias »Shanti Müller« eine weitere Ermittlerin ins Rennen schickte. Nach zwei Wochen flog schließlich eine dritte Spionin auf, die laut Attac bis 2008 unter ihrem richtigen Namen bei dem Netzwerk aktiv war. Offensichtlich wusste die Polizei Waadt von den geheimen Recherchen.
Der Schweizer Spitzelskandal ist Teil eines undurchsichtigen Sumpfs privater Sicherheitsfirmen, die im Auftrag multinationaler Konzerne linke Zusammenhänge ausspähen. So berichtet es auch die britische Tageszeitung »Guardian«: Laut einem ehemaligen britischen Polizeispitzel habe die Zahl privater Ermittler erheblich zugenommen und sei höher als jene der Polizei.
Die britische Firma Vericola bietet beispielsweise eine »diskrete Beobachtung« politischer Gruppen an, damit diese nicht den »Ruf einer Firma ruinieren«. Auch der in Deutschland ansässige Konzern E.on lässt in Großbritannien klimapolitische Aktivisten ausforschen. E.on beauftragte hierfür neben »Vericola« die Firma »Global Open«. »Global Open« bewirbt ihre Spezialitäten in den Bereichen »Tierrechte, Umweltangelegenheiten, Korporatismus, Anti-Globalisierung«.
Sofort nach der Enttarnung der Securitas-Schnüfflerin »Sara Meylan« stellte Attac Schweiz zusammen mit anderen Autoren des durch Nestlé ausgeforschten Buches eine Strafanzeige gegen die beiden Firmen. Das Verfahren wegen »Verletzung der Bestimmungen des Strafgesetzbuches zum Schutz des Privatbereichs« und »Verletzung des Datenschutzgesetzes« wurde jedoch eingestellt: Obwohl auch die Staatsanwaltschaft dem Untersuchungsrichter eine mangelhafte Untersuchung attestierte, wollte dieser keine Rechtsverletzung erkennen. Einzig das Datenschutzgesetz sei verletzt worden, dies sei aber verjährt. Mehr Hoffnung verspricht jetzt ein Zivilverfahren, das die Aktivisten ebenfalls 2008 angestoßen hatten. Nestlé und Securitas sollen gezwungen werden, alle Ergebnisse der Überwachung vorzulegen und ihren Zweck mitzuteilen.
Am heutigen Dienstag und am Mittwoch findet nun die Hauptverhandlung vor dem Bezirkszivilgericht statt. Die Anhörung der Zeugen verspricht neue Erkenntnisse über die Spitzelei privater Sicherheitsdienste in linken Zusammenhängen. Ob das Gerichtsverfahren allerdings die Infiltration linker Zusammenhänge durch multinationale Konzerne ernsthaft einschränken kann, ist fraglich. Bislang fand sich kein Kläger, um auch die Spitzelei von E.on bei klimapolitischen Aktivisten juristisch aufzuarbeiten.
Wegen der Bespitzelung von Attac wurde Nestlé bereits 2009 ein Preis für das »übelste Unternehmen des Jahres« verliehen. Die Auszeichnung wird anlässlich des Weltwirtschaftsforums von dem Zusammenschluss »Erklärung von Bern« vergeben, der damit eine Gegenöffentlichkeit zu dem Treffen in Davos herstellt. Auch Nestlé wird bei der Zusammenkunft in dieser Woche wieder dort vertreten sein: Während in Lausanne gegen den Konzern verhandelt wird, freut sich dessen Präsident Peter Brabeck in Davos auf die Rettung des Kapitalismus mit Hilfe von IWF und Weltbank.
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