Vom Liberalismus zum Neofeudalismus
Wirtschaftsethiker Peter Ulrich fordert die Abkehr vom Prinzip der Gewinnmaximierung
nd: Herr Ulrich, Sie postulieren eine »zivilisierte Marktwirtschaft«. Was ist damit gemeint?
Ulrich: Eine Marktwirtschaft, die konsequent in die Prinzipien einer Gesellschaft freier Bürgerinnen und Bürger eingebunden wird, statt dass die Gesellschaft zunehmend unter Sachzwänge des marktwirtschaftlichen Standortwettbewerbs gestellt wird. Das war schon der Leitgedanke des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi in seinem Buch »The Great Transformation« (1944). Das diesjährige Weltwirtschaftsforum (WEF) hat seinen Titel ja als Motto gewählt. Ich hoffe, die dortigen Debatten gehen an Polanyis epochaler Perspektive nicht völlig vorbei.
Inwiefern ist diese aktuell?
Seine zentrale These war, dass die Gesellschaft immer mehr zum »Anhängsel des Marktes« werde. Die Herauslösung des marktwirtschaftlichen Systems sei unter der Flagge eines einseitigen Wirtschaftsliberalismus schon im 19. Jahrhundert zu weit gegangen und führe unweigerlich zu einer katastrophalen gesellschaftlichen Zerrüttung. Die nächste Phase der großen politisch-ökonomischen Transformation besteht in der Wiedereinbettung der Marktwirtschaft in die Bürgergesellschaft.
Sie sprechen manchmal von Volkskapitalismus. Meinen Sie damit Verstaatlichung?
Im Gegenteil. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft sollte allen Bürgern Eigentum zustehen, denn alle sollen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Dann braucht es auch weniger kompensatorische Sozialpolitik, also weniger Staat.
Fordern Sie demnach eine Umverteilung der Vermögen?
Die findet seit 30 Jahren statt, und zwar von unten nach oben, also in Richtung einer immer extremeren Vermögenskonzentration. Eine wahrhaft bürgerliche Gesellschaft sorgt demgegenüber für eine breite Eigentumsverteilung und Chancengleichheit. Primär soll die individuelle Leistung, nicht das ererbte Vermögen über die Lebenslage entscheiden. Sonst verkehrt sich der Liberalismus in Neofeudalismus.
Und was bedeutet eine zivilisierte Unternehmensführung?
Dies bedeutet Fairness gegenüber allen vom unternehmerischen Handeln Betroffenen. Das sind neben den Kapitalgebern insbesondere die Mitarbeitenden, die Lieferanten, die Kunden, die öffentliche Hand und jene, die nach uns kommen. Vage Absichtserklärungen, die legitimen Ansprüche aller »Stakeholder« in die Unternehmensziele einzubeziehen, genügen jedoch nicht. Denn es bleibt dann im Belieben der Unternehmensleitung, wann und wie weitgehend sie den »Stakeholder«-Dialog pflegt und auf betroffene Ansprüche Rücksicht nimmt. In einer modernen Gesellschaft kann solche Rücksichtnahme aber nicht privatwirtschaftlichen Kalkülen überlassen werden, sondern ist Sache der rechtstaatlichen Grundordnung.
Zum Beispiel?
Zugang zu sauberem Trinkwasser ist ein unantastbares Menschenrecht, das jeder Rechtstaat für alle zu gewährleisten hat, unabhängig von ihrer Kaufkraft. Die Grundversorgung mit Trinkwasser darf daher nicht privatisiert und der Marktlogik unterworfen werden. Sie ist Sache einer öffentlichen Infrastruktur. Das schließt wirtschaftliche Anreize zu einem sparsamen Umgang mit dem knappen Wasser keineswegs aus.
Wo bleibt das unternehmerische Gewinnprinzip?
Strikte Gewinnmaximierung ist kein legitimes Unternehmensziel. Denn zwischen den verschiedenen »Stakeholder«-Interessen gibt es ganz normale Konflikte. Gute und legitime Unternehmensführung soll gegenüber allen Beteiligten und Betroffenen verantwortbar sein. Sie zielt auf faire Ausgewogenheit und moderiert dementsprechend das Gewinnstreben. Entsprechende Standards guter Unternehmensführung sind weltweit in Entwicklung und werden sich als Basis eines zivilisierten Wettbewerbs über kurz oder lang durchsetzen.
Wie hoch darf der Gewinn sein?
Das hängt eben in erster Linie von der fairen Vertretbarkeit gegenüber allen Betroffenen ab und lässt sich nicht einfach mit einer Zahl ausdrücken. Wer aber Gewinnanteile im zweistelligen Prozentbereich des investierten Kapitals anstrebt, tut dies in aller Regel auf Kosten anderer, das heißt, er betreibt Umverteilung nach dem Muster »Privatisierung der Gewinne, Sozialisierung der Kosten«. Glauben Sie mir, davon haben aufgeklärte Zeitgenossen auf der ganzen Welt inzwischen die Nase voll.
Forum der Eliten
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Mittwochabend das 42. Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos eröffnet. Mehr als 2500 Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, darunter zahlreiche Staats- und Regierungschefs, diskutieren in dem exklusiven Schweizer Skiort bis zum 29. Januar unter dem Motto »Die große Transformation: Neue Modelle gestalten« über Auswege aus der Krise.
Das rein informelle Forum ist einer der wichtigsten Treffpunkte für Spitzenpolitiker, Top-Manager und Wissenschaftler aus aller Welt. Bei Seminaren und Diskussionen reden die Teilnehmer über globale wirtschaftliche Probleme, suchen Lösungsansätze für politische Herausforderungen. Zudem nutzen sie die Konferenz, um persönliche und geschäftliche Kontakte zu knüpfen und auszubauen. Die Zivilgesellschaft bleibt weitgehend außen vor.
Gegründet wurde das WEF 1971 von dem deutschen Wirtschaftsexperten Klaus Schwab. Zunächst ging es um neue Managementmethoden. Mit der Zeit verlagerte Schwab den Schwerpunkt auf allgemeine Fragen und gründete eine Stiftung zur Ausrichtung des Forums. dpa/nd
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