Nicht nur der Juchtenkäfer lebt im Schlossgarten
Naturschützer fokussieren ihren Protest gegen Stuttgart 21 zunehmend auf rechtliche Schritte, um den Bahnhofsneubau zu verzögern
Die Situation rund um den Stuttgarter Schlossgarten spitzt sich zu. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat gestern die Räumung der Grünfläche erlaubt. Das Tipi-Dorf darf sofort geräumt werden. Damit während des Polizeieinsatzes auch ein Betretungsverbot gültig wird, müssen einige Auflagen des Gerichts erfüllt werden, erklärte Gerichtssprecherin Kerstin Wilke. Den anschließend geplanten Baumfällarbeiten müsse erst noch das Eisenbahnbundesamt (EBA) als Aufsichtsbehörde der Bahn zustimmen, hieß es.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) versucht indes mit rechtlichen Schritten die Bahn beim Bau des neuen Bahnhofs zu behindern. Gestern kündigte der Verband an, umgehend einen Eilantrag zu stellen, sollte das Eisenbahnbundesamt in diesen Tagen die Fällung der Bäume im Stuttgarter Schlossgarten genehmigen. »Unserer Ansicht nach ist die Baumfällung rechtlich und naturschutzfachlich nicht möglich«, unterstrich die BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender.
Nachdem die Volksabstimmung im November eine Mehrheit für den Bau von S21 ergeben hatte, konzentrieren sich viele S21-Gegner auf rechtliche Möglichkeiten, um der Bahn den Bau des unterirdischen Bahnhofs zu vermiesen. Doch die ist fest entschlossen, ihren Zeitplan einzuhalten. Besonders wichtig ist ihr derzeit, 100 Bäume im Stuttgarter Schlossgarten zu fällen und 68 zu verpflanzen. Denn dort, wo die alten Bäume stehen, soll das Megaloch für den Tiefbahnhof gebuddelt werden. Viel Zeit bleibt der Bahn für die Aktion nicht mehr, da am 1. März die Vegetationsperiode beginnt, womit jegliches Baumfällen verboten ist.
Im Oktober vorigen Jahres hatte das EBA eben jenes Fällen verboten, bis die Bahn einen verbindlichen Plan zum Einhalt des Artenschutzes vorgelegt hat. Nun hat die Bahn der Aufsichtsbehörde EBA zwar Unterlagen vorgelegt, doch die sind nach Ansicht des BUND völlig unzureichend. So seien die artenschutzrechtlichen Gutachten mangelhaft. Unter anderem wäre nicht untersucht worden, welche Vogelarten den Schlossgarten im Winter bewohnen. Hinsichtlich der streng geschützten Fledermäuse habe man zu früh untersucht, welche Arten wo überwintern. »Eine ganze Reihe geschützter Fledermausarten bezieht ihr Winterquartier aber sehr viel später«, erläuterte die BUND-Fachreferentin Christine Fabricius. Und auch die Bedingungen für das Überleben des mittlerweile bundesweit bekannten und ebenfalls streng geschützten Juchtenkäfers seien nicht ordentlich erfasst worden. Zudem wäre der Plan der Bahn formal nicht in Ordnung. Der BUND besteht darauf, dass »eine landschaftspflegerische Ausführungsplanung« erstellt wird, so ihr Anwalt Tobias Lieber. Dies müsse im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens gemacht werden »und nicht so nebenher«.
Dass das EBA den BUND erst vor wenigen Tagen aufgefordert hat, eine Stellungnahme zum Bahn-Plan abzugeben, wundert Dahlbender kaum noch. Gerade mal drei Tage hatte der Verband Zeit. Für Dahlbender, die zu den schärfsten Kritikern von S21 gehört, ist das ein weiterer Beleg dafür, dass für den Bahnhofsneubau alles möglich gemacht wird. Sie bezweifelt die Unabhängigkeit und Objektivität des EBA: »Dort wird im Zweifelsfall für die Bahn entschieden und nicht für den Artenschutz.« Auch die Bahn kritisierte Dahlbender: »Sie ist intransparent, führt Hau-Ruck-Aktionen durch. Die Bahn benimmt sich wie vor der Schlichtung.«
Die BUND-Chefin forderte die grün-rote Landesregierung auf, aktiv zu werden. »Ich erinnere daran, dass der Ministerpräsident nach der Volksabstimmung eine konstruktiv-kritische Begleitung des Projektes angekündigt hat. Mir fehlt derzeit das Kritische.« Mit einem derart miserablen Gutachten zum Artenschutz, wie die Bahn es nun für die Baumfällungen vorgelegt habe, »würden Sie keine Windanlage im Land genehmigt bekommen«. Die Bahn versuche wieder einmal, Rechtsprechung zu umgehen.
Auch auf der Baustelle der Bahn am Stuttgarter Hauptbahnhof läuft nicht alles legal. Dessen Südflügel lässt sie gerade für S21 entkernen, um ihn abzureißen. Nach einer Razzia des Zolls wird nun gegen eine Zeitarbeitsfirma wegen Betrugs ermittelt. Das Hauptzollamt Stuttgart teilte mit, dass die Firma dem Abrissunternehmen 14 Arbeiter verliehen haben soll, obwohl sie am Bau gar nicht verleihen darf. Damit sollten offenbar der gesetzliche Mindestlohn am Bau umgangen werden und die Sozialbeiträge hinterzogen worden sein.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.