Für und wider Putin
Trotz strengen Frostes werden Zehntausende erwartet
Atemlos lauscht die Menge, in den Gesichtern arbeitet es. Der Mann auf dem Podium, der im Ural gegen die »Arschlöcher« auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz wettert, wo am heutigen Sonnabend das nächste Protestmeeting gegen Putin und gegen Wahlfälschungen stattfindet, ist einer der ihren und spricht ihre Sprache: Waleri Trapesnikow (60), Dreher in Perm, seit Dezember Duma-Abgeordneter mit Mandat der Regierungspartei Einiges Russland und derzeit Putins schärfste Waffe. Er ist längst genauso bekannt wie Alexej Nawalny, der kritische Blogger, der in der Hauptstadt gegen Korruption, Stimmenklau und Putins straffe Machtvertikale wettert. Der Hüne Trapesnikow könnte schon dank seinem Aussehen die Hauptrolle in jedem Revolutionsfilm übernehmen, und er hat im Überfluss, was Nawalny und seinen Mitkämpfern fehlt: Charisma und politische Erfahrung, erworben in vierzig Jahren Arbeit als Gewerkschaftsfunktionär.
Trapesnikow steht auch auf der Rednerliste des großen Meetings heute in Moskau, das Wladimir Putin für die Präsidentenwahl am 4. März den Rücken stärken soll. Anfangs hatte er sogar mit einem Panzer aus dem Großen Vaterländischen Krieg anreisen wollen, den Arbeiter einer Waggonfabrik in Nishni Tagil eigens dazu wieder fahrtüchtig machten. Das, so jedoch Putin, verstoße gegen das Gesetz und sei auch nicht nötig.
In der Provinz gab es tatsächlich bereits zahlreiche Meetings zur Unterstützung Putins. Jetzt zieht die Hauptstadt nach. Mindestens 30 000 Teilnehmer werden erwartet. Jugendbewegte, vor allem aber Lehrer, Ärzte und andere Staatsbedienstete: Stammwähler, die in Putin den Garanten für Stabilität sehen. »Wir haben etwas zu verlieren«, heißt die Losung für die Kundgebung. Sie findet in der Gedenkstätte für die in allen Kriegen gefallenen sowjetischen und russischen Soldaten auf der Poklonnaja Gora statt.
Knapp drei Kilometer entfernt formiert sich der Demonstrationszug der Putin-Gegner. Ihr Ziel ist der Bolotnaja-Platz gegenüber vom Kreml, wo am 10. Dezember das erste große Protestmeeting stattfand. Zwei Wochen später auf dem Sacharow-Prospekt versammelten sich bereits mindestens 30 000. Für den heutigen Protest hatten die Organisatoren Teilnehmerzahlen wie bei der Demonstration am 4. Februar 1990 angepeilt, als eine halbe Million die Abschaffung von Artikel 6 der sowjetischen Verfassung über die führende Rolle der KPdSU durchsetzte.
Nun aber haben strenge Fröste Moskau fest im Griff. Und vor allem der pragmatische Flügel der Protestbewegung, dem vor allem Intellektuelle und Kulturschaffende angehören, blickt den Tatsachen nüchtern ins Auge: Interessenkonflikte zwischen Liberalen, Linken und Nationalisten verhinderten eine Einigung auf konkrete politische Forderungen und auf Sprecher, die sie bei Verhandlungen mit der Macht vertreten.
Angst vor der eigenen Courage beschleicht sogar die Führer der Protestbewegung. Der Machtwechsel in Russland werde sich langsam vollziehen, die Zivilgesellschaft sei derzeit zu schwach, um Verantwortung übernehmen zu können, warnte der prominente Schriftsteller Boris Akunin.
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