Als Gaddafis Machtbalance zerbrach

Libyen sieht heute Feierlichkeiten zum 1. Jahrestag der »Revolution des 17. Februar« / NATO bleibt bescheiden abseits

  • Roland Etzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Um Libyen ist es ruhig geworden, gemessen jedenfalls daran, was über das Land gerollt ist: ein siebenmonatiger Bombenregen mit rund 26 000 Kampfeinsätzen, die intensivste kriegerische Auseinandersetzung des vergangenen Jahres, an deren Ende der gewaltsame Tod des langjährigen Staatschefs Gaddafi stand.

Etwa vor Jahresfrist begannen die Unruhen in Libyens zweitgrößter Stadt Bengasi. Protest entlud sich mit einer Heftigkeit, mit der kaum jemand gerechnet hatte. Aber was entsprach schon den allgemeinen Erwartungen, selbst denen der Experten, in jenem arabischen Jahr? Schließlich hatte auch niemand das politische Ende von Gaddafis westlichen und östlichen Nachbarn - Ben Ali in Tunesien und Husni Mubarak in Ägypten - für 2011 vorausgesagt. Selbst Gaddafi verschwendete, als er seine Nachbarn stürzen sah, wohl keinen Gedanken daran, dass seine eigene Herrschaft dadurch gefährdet sein könnte. Das enfant terrible der arabischen Welt fühlte sich sogar stark genug, die Demonstranten vom Kairoer Tahrir-Platz mit Hohn und Spott zu überschütten: »Was habt ihr nun davon gehabt, eure Ordnung zu zerstören? Ihr werdet ihr noch nachtrauern.«

Das war auch insofern erstaunlich, als das einzige, was Gaddafi und Mubarak verbunden hatte, abgrundtiefe Feindschaft war; hier in Tripolis das personifizierte Feindbild der USA, dort in Kairo deren wichtigster arabischer Verbündeter. Warum sollte der Libyer dem Ägypter nachtrauern? Das Rätsel blieb unaufgeklärt. Gaddafi war nun vollauf mit der Verteidigung seiner Herrschaft beschäftigt. Schon immer hatte er, wenn es um innerlibyschen Widerstand gegen seine unumschränkte Macht ging, vor allem den aus Bengasi zu fürchten. Und wie immer, so glaubte er auch diesmal, ihn mit brachialer Gewalt brechen zu können.

Das war eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, in zweierlei Hinsicht. Gaddafi, der 1969 im Alter von 27 Jahren mit einer Gruppe patriotisch gesinnter Offiziere den König handstreichartig gestürzt hatte, war es im Laufe seiner langen Herrschaft stets gelungen, in der stark stammesgeprägten libyschen Gesellschaft auftretende Rivalitäten und Spannungen mit Hilfe der üppig sprudelnden Öleinnahmen auszutarieren. Dies hatte er zuletzt offenbar vernachlässigt oder nach mehr als vier Jahrzehnten an der Macht nicht mehr ernst genug genommen. Jedenfalls erwies sich in der Folge, dass die Machtbalance offenbar beschädigt war und unter nun einsetzendem massiven äußeren Druck schnell zusammenbrach.

Die alten Kolonialmächte Nordafrikas witterten eine unverhoffte Chance, den ewigen Störenfried Gaddafi, von dem sie sich so häufig hatten demütigen lassen müssen, zur Strecke zu bringen. Sie griffen erbarmungslos zu. Dabei zeigten sie sich ausgesprochen kreativ und lernfähig, man kann es auch skrupellos nennen. Besonders Frankreich und die USA, die den Sturz ihrer treuen Freunde Ben Ali und Mubarak in Kairo und Tunis trotz mancher Bemühungen nicht verhindern und ihr Missfallen darüber nur schwer verbergen konnten, gebärdeten sich nun, wo es auch gegen den Herrscher in Tripolis ging, geradezu wie die Erfinder des »Arabischen Frühlings«.

Frankreichs Nicolas Sarkozy, dessen Verteidigungsministerin Ben Ali gerade eben noch Hilfe bei der Niederschlagung von Unruhen angedient hatte, erklärte nun den »Schutz der Zivilbevölkerung« in Libyen zu seiner Herzensangelegenheit. Es dauerte dann nur wenige Wochen bis zum Beginn des Luftkriegs mittels der völkerrechtlichen Krücke »Errichtung einer Flugverbotszone und nachgeordnete Maßnahmen«. Die Begeisterung der NATO-Verbündeten, da hineingezogen zu werden, war sehr unterschiedlich entwickelt. Letztlich machten aber alle mit, natürlich auch Deutschland, denn nur zusehen, während sich die vermutlichen Gewinner um die Beute balgen, wollte keiner. Dazu ist der libysche Ölkuchen einfach zu groß.

Die Rechnung ist bis jetzt aufgegangen. Den Aufständischen wurde zum Sieg verholfen. Die Danksagung der siegreichen »Rebellen« enthielt die Zusage, das den von Gaddafi nationalisierten Ölquellen und anderen Pfründen eine Neuverteilung bevorsteht.

Dass die Rechnung der Aufständischen und der NATO aufging, wurde vor allen Dingen durch zwei Faktoren begünstigt: Zum ersten die Unfähigkeit Gaddafis zu Dialog und Kompromiss. Nicht wenige Beobachter meinen, dass selbst nach einem Vierteljahr Luftkrieg noch Verhandlungslösungen möglich gewesen wären. Auch die meisten unmittelbar durch den Krieg Getöteten gab es erst danach.

Zum anderen war es die internationale Konstellation, die Gaddafi zum Verhängnis wurde. Nicht nur, dass ihn seine zum Teil alternativen Politikansätze innerhalb der arabischen Welt isoliert hatten, in hohem Maße brachte ihn auch sein politisches Abenteurertum, gepaart mit Selbstüberschätzung und Unberechenbarkeit, in eine aussichtslose Lage. Russland mag es nachher möglicherweise als Fehler angesehen haben, im Augenblick der Entscheidung aber mochte sich auch Moskau nicht für Gaddafi in die Bresche schlagen. So blieben nur wenige Freunde weit außerhalb der Region, wie Südafrika oder Venezuela, und die konnten nur wenig für ihn tun.

Jetzt richtet sich der Blick vor allem auf jene, die sich heute als Sieger feiern lassen: der Nationale Übergangsrat - ein äußerst heterogenes und ziemlich undurchsichtiges Gremium, bestehend aus abtrünnigen Gaddafi-Getreuen. Vorsitzender ist Gaddafis vorletzter Justizminister Mustafa Muhammad Abd al-Dschalil.

Das ist dem Rat indes weniger anzulasten als die Tatsache, dass er nachgewiesenermaßen Massaker an kriegsgefangenen Gaddafi-Anhängern mindestens zuließ. Im Übrigen ist bisher wenig politisches Profil zu erkennen. Sicher scheint, dass der Islam das traditionell konservative Gewand sunnitischer Prägung zurückerhalten wird. Aber sonst? Auch den westlichen Paten des Rates ist die Ungewissheit nicht ganz geheuer. Unterm Strich aber wird für sie vor allem zählen, dass der angestrebte Regimewechsel vollzogen wurde.

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