Sehnsucht nach Normalität

Serbien-Streit und Haushaltspolitik auf Gipfel-Tagesordnung

  • Kay Wagner, Brüssel
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Zeiten des hektischen Treibens vor EU-Gipfeln scheinen fürs Erste vorbei. Fast gespenstisch ruhig ging es vor dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel zu. In EU-Kreisen zieht die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Serbien noch die größte Aufmerksamkeit auf sich.

Eurokrise? Rettungspakete? Griechenlandpleite? Obwohl alle kürzlich beschlossenen Maßnahmen noch nicht in trockenen Tüchern sind, machen diese Schlagworte derzeit nicht die Runde in »Europas Hauptstadt«. Auch, dass die Ratingagentur Standard & Poor's termingerecht zwei Tage vor dem EU-Gipfel Griechenland das Attribut »teilweise zahlungsunfähig« angeheftet hat, ließ Brüssel kalt. Hier scheint man sich nach ruhiger Normalität zu sehnen. Schon vor dem Gipfel im Januar war das zu spüren. Doch weil damals noch der Fiskalpakt geschnürt werden sollte, blieb es bei der Sehnsucht.

Die Vorzeichen lassen erwarten, dass es bei der heute und morgen stattfindenden Zusammenkunft der EU-Staats- und Regierungschefs anders wird. Zwar steht der Fiskalpakt erneut auf dem Programm: Am Freitagvormittag soll er in einer viertelstündigen Zeremonie unterzeichnet werden, damit ihn in den kommenden Monaten Parlamente oder - wie kurz vor dem Gipfel für Irland angekündigt - die Bevölkerung annehmen oder ablehnen können. Doch gesprochen werden soll über den Pakt nicht mehr. Zumindest nicht mehr öffentlich.

Lediglich diskutiert wird auch der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM). Kommissionspräsident Manuel Barroso machte am Mittwoch deutlich, dass er beim EU-Gipfel noch keinen Kompromiss zu den Krisenfonds ESM und EFSF erwartet. Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder hatten vergangenes Jahr verabredet, die Obergrenze des ESM im März zu überprüfen. Dies war im Rahmen des EU-Gipfels erwartet worden. Ein gesondertes Treffen der Euro-Länder wurde jedoch abgesagt. EU-Diplomaten begründeten dies mit dem Widerstand Deutschlands gegen eine ESM-Aufstockung. Zurückhaltend zeigte sich EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso zum Vorschlag von Euro-Gruppenchef Jean-Claude Juncker, einem EU-Kommissar die Zuständigkeit für Griechenland zu übertragen. »Ein Kommissar wird das Griechenland-Problem nicht lösen«, sagte der Portugiese.

Heikle Themen des Treffens sind nicht auszumachen. Selbst das »Europäische Semester« taugt nicht zum Ruhestörer. Dabei geht es um die Überprüfung der Haushalts- und Strukturpolitik der Mitgliedstaaten für den Zeitraum von sechs Monaten. Hierzu soll zunächst nur eine Bestandsaufnahme darüber erfolgen, wie das 2011 erstmals eingeführte Semester sich in der Praxis schlägt.

Im Vorfeld dieses Gipfels ging es deshalb auch eher um Themen, die schon seit Monaten hätten debattiert werden sollen. Nämlich Wirtschaft, Wachstum und Nachhaltigkeit, Jobs, Bildung und Innovation. Themen, mit denen Europa auf den Weg in das Jahr 2020 geschickt werden soll, in dem die EU der modernste und fortschrittlichste Teil der Welt sein möchte.

Zwölf EU-Staaten hatten vor ein paar Tagen einen Brief an Barroso geschickt. Darin forderten sie den Portugiesen auf, mehr konkrete Vorschläge zu präsentieren, auf welchem Wege Europa 2020 seine Ziele erreicht haben könnte. Barroso schrieb einen langen Antwortbrief und heftete diesem eine Liste von Maßnahmen an, die seine Behörde bereits in die Wege geleitet habe. Acht Themen davon werden in der ein oder anderen Form Arbeitsgrundlage des Treffens sein: Binnenmarkt, digitaler Binnenmarkt, Energie, Innovation, Handelswachstum, Bürokratieabbau, Beschäftigung und Regulierung des Finanzsektors. Bahnbrechende Beschlüsse sind kaum zu erwarten.

Neben der Vorbereitung von wichtigen internationalen Treffen in diesem Jahr - G8-Gipfel im Mai, G20-Gipfel im Juni sowie die UN-Rio+20-Konferenz ebenfalls im Juni - und Gesprächen zur Lage in den Ländern des Arabischen Frühlings sowie Syrien wird die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien erwartet. Viele EU-Mitgliedsstaaten hätten den förmlichen Beschluss dazu gern schon am Dienstag während des EU-Außenministerrats getroffen. Doch Rumänien stellte sich bis zum Schluss quer, aus Sorge um eine rumänische Minderheit in Serbien. Beobachter erwarten, dass diese Unstimmigkeiten schon heute ausgeräumt werden können.

Eine kleine Überraschung könnte der Gipfel allerdings doch bieten: Das auslaufende Mandat des Ständigen Ratspräsidenten Herman Van Rompuy könnte auf eine zweite Amtszeit verlängert werden. Belgische Zeitungen hatten darüber berichtet, gestützt auf Informationen von Diplomaten. Der ehemalige Premier des Landes war vor gut zwei Jahren überraschend in das neu geschaffene Amt des EU-Ratspräsidenten gehievt worden. Eine öffentliche Debatte über seine Nachfolge hat bislang nicht stattgefunden.


Wirtschaftsthemen des EU-Gipfels

WACHSTUM: Die Staats- und Regierungschefs wollen beraten, wie das Wirtschaftswachstum in Europa gesteigert werden kann. »Auch wenn die Haushaltsdisziplin fortgesetzt wird, müssen Investitionen in künftiges Wachstum Priorität erhalten - mit dem Schwerpunkt auf Ausbildung, Forschung und Innovation«, heißt es im Entwurf für eine Schlusserklärung des Gipfels. Gelingen solle dies mit der Förderung kleiner Unternehmen und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. Demnach sollen die Steuern auf Arbeit sinken und Arbeitnehmer leichter Mitarbeiter einstellen können.

PAKT für HAUSHALTSDISZIPLIN: Die meisten EU-Staaten wollen beim Gipfel den bereits beschlossenen Fiskalpakt unterzeichnen. Darin verpflichten sie sich zur Begrenzung ihrer Staatsverschuldung (Schuldenbremse) und unterwerfen sich automatischen Sanktionen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) soll die rechtliche Umsetzung in den Nationalstaaten überwachen. Mitmachen werden alle 17 Euro-Staaten sowie die meisten EU-Mitglieder. Großbritannien lehnt die Teilnahme strikt ab, auch Tschechien hat nicht zugestimmt. Der Pakt soll spätestens Anfang 2013 in Kraft treten, sofern bis dahin zwölf Euro-Länder den Text ratifiziert haben.

AUFSTOCKUNG KRISENFONDS: Die Staats- und Regierungschefs werden über die Finanzausstattung des Euro-Krisenfonds ESM sprechen - aber nicht entscheiden. Denn ein für Freitag angedachtes separates Treffen auf Ebene der 17 Euro-Länder findet nicht statt, weil es noch keine einheitliche Linie gibt. Deutschland lehnt eine Aufstockung strikt ab, gerät aber international zunehmend unter Druck. Der Internationale Währungsfonds, die EU-Kommission und Schwergewichte wie die USA fordern, das Notkredit-Volumen des ESM von 500 Milliarden Euro zu erhöhen. Eine Entscheidung soll bis Ende März fallen.

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