Großstadt-Sehnsucht

ALEXANDERPLATZ - Geschichten vom »Nabel der Welt«

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 3 Min.

Er ist der Franz Biberkopf unter den Metropolenplätzen: Der Berliner Alexanderplatz sieht nicht gut aus, wurde als ungewolltes Straßenkind stiefmütterlich vor den Stadttoren aufgezogen, verleugnet, solange dies möglich war, und später mehrfach mutwillig von seiner Umwelt abgetrennt - ohne dass an die Resozialisation des heute so unwirklichen wie unwirtlichen Ortes Gedanken verschwendet worden wären. Doch ebenso wie der Pechvogel Döblins rührt die heute von Vierspurern gerahmte Brache die Menschen.

Ihrer Faszination oder Abscheu, die sie für den Alex empfinden, haben nun 15 Autoren Ausdruck verliehen. Die Sammlung kurzer, mal fiktionaler, mal autobiografischer, mal dokumentarischer Beiträge »Alexanderplatz - Geschichten vom Nabel der Welt« wird ergänzt durch Fotos von Harald Hauswald.

Er ist ein bis heute gültiger Biberkopf-Darsteller, ein großer Literat ist Günter Lamprecht nicht. So vermag seine den Bogen zwischen Kriegserinnerung und DDR-Verdammung spannende Einleitung nicht mitzureißen. Mit großem Gewinn, aber auch mit Wehmut, liest man dagegen den nüchternen historischen und stadtplanerischen Abriss von Christian Bahr. Wehmut angesichts der verpassten Chancen: Wäre beim Architekturwettbewerb 1929 der Siegerentwurf statt des verzagten zweiten Platzes realisiert worden, die gesamte Berliner Mitte sähe (trotz Kriegs) höchstwahrscheinlich heute anders aus. Das fantasielose und kurzsichtige Vorgehen nach dem Krieg, das den Platz zur heutigen riesenhaften Verkehrsinsel degradierte, ist nur ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe von Fehlplanungen. Dabei aber, dass ausgerechnet der »Alexa«-Shopping-Moloch den momentanen, abgeschnittenen Inselstatus des Platzes positiv durchbrochen habe, kann man dem Autor nur widerwillig folgen. Doch der Beitrag stimmt wachsam. Wer weiß, in welchem Amtszimmer in diesem Moment welcher Irrweg für den Alex der Zukunft ausgebrütet wird.

Nostalgisch bis allzu menschelnd, dabei aber durchaus kurzweilig ist der Charakter vieler der weiteren Texte. Für Jan Eik etwa war der Alex mehrfach »Mittelpunkt der Welt«: als Bombenschutz, bei den Weltfestspielen, am 17. Juni und 1989. Bei Eröffnung in der Pubertät steckend, war das Zentrum der Welt für Katja Lange-Müller ein Warenhaus: das Centrum Warenhaus nämlich, das sie magisch anzog, was ihr fast zum Verhängnis wurde. Christoph Dieckmann verbindet Persönliches wie Politisches mit dem zugigen Areal: vom Entwurf einer wilden Teenagerfantasie (ebenfalls im Centrum) über köstliche Einlassungen zu seinen damaligen »Eingaben« an die DDR-Bürokratie bis zu Wendeeindrücken.

Oder es weht der Geist der pubertären Großstadt-Sehnsucht durch die Zeilen. Mancher tobte sich - halbstark aus der Provinz kommend - bei den Weltfestspielen erstmals richtig aus. Der Alex als Adoleszenz-Katalysator, als Bühne für die erste Liebe, die ersten Regelverstöße, die ersten großen Enttäuschungen. Unterhaltend, wenn auch in der Wiederkehr ermüdend, sind die Beschreibungen des Alex’ als Ort des Festspiel-Katzenjammer, wenn sich nach dem Rausch der erotisch aufgeladenen Völkerverständigung eine groteske Kleinkariertheit Bahn bricht, die mit übertriebener Härte durchgesetzt wird. Der Alexanderplatz: für viele offensichtlich ein besonderer Kristallisationspunkt für eine Hassliebe zur DDR - bei einigen Autoren mit Tendenz zur Vereinfachung.

Günter Lamprecht (Hg.). Alexanderplatz. Geschichten vom Nabel der Welt. Fotos v. Harald Hauswald. Jaron Verlag. 200 S., br., 12,95 €.

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