Leben und Schreiben: Die lange Spur der Schmerzen
Essays, Reden, Gespräche von Christa Wolf
Rede, dass ich dich sehe. Eine Ermunterung zum quasi offenen Blick in dem, was einer sagt. Ja, das Wort wie ein Gesicht, in dem du Wahrhaftigkeit lesen kannst. Sprache nicht als Kostüm, sondern als Wesen. Vor anderen so sprechen wie mit sich selbst. Das wäre ein Sprechen gegen alles, was uns heutzutage so leicht die Zungen löst.
Christa Wolfs Essays, Reden und Gespräche, von ihr noch selbst ausgewählt (sie starb Ende des vergangenen Jahres), sind Signale der Not. Jener schönsten Not, aus der heraus jeder Schriftsteller sich der Prüfung stellt, die Sprache ihm abverlangt. Schreiben (und Lesen) als Gegenwehr. Als Mangelbekämpfung. Als Abschottung gegen den Universalaustausch, in den wir alle in irgendeiner Form eingegangen sind. Überall Lichtlosigkeit in den buntesten Farben. Da wächst die Sehnsucht nach einem besonderen Tastsinn. Da drückt ein Wunsch von innen gegen den wachsenden Druck aus Oberfläche: eine potenziell verkaufsfreie Leere zu bauen, zunächst mal in einem selber - aus der dann etwas Neuartiges auch außerhalb von uns erwachsen könnte.
»Wie oft in seinem Leben wird man ein anderer?« fragt Christa Wolf in einem Text über Günter Grass' »Beim Häuten der Zwiebel«. Es ist die Frage nach Identität, nach dem »deutschen Selbstempfinden«, die sie an sich richtet. Es geht darum, »Erinnerung durch Erzählen heraufzuholen und sie für das Ich wieder ›verfügbar‹ zu machen - mit allen Vorbehalten gegenüber der Zuverlässigkeit unseres Gedächtnisses.« Wie bringt man sich - Gestalt aus heißblütiger, kaltherziger Geschichte - redlich fragend zur Sprache? Wolf sucht Antwort in einer Rede zum Thomas-Mann-Preis, in einer Rede vor Redenschreibern, im Geburtstagsgruß an Egon Bahr, in den Zeitungsauskünften.
Rückblende. »Auf einer breiten Schicht von Knochen, den vermodernden Knochen der Opfer, wird Nachkriegsdeutschland aufgebaut.« Das Bild geht ihr nicht aus dem Kopf. Das Gesicht der heimkehrenden, hoffenden, lächelnd doch umhüllt bleibenden, ängstlichen, doch wohl immer sich fluchtbereit haltenden Anna Seghers wird für Christa Wolf jenes Gesicht sein, das den seelischen Zustand einer ganzen Generation verkörpert. Die jetzt im Osten Macht haben, aber ihre Angst nicht verlieren würden.
Christa Wolfs Schreiben erzählt vom argen, jahrelangen Weg zur Erkenntnis, dass Politik auf die Frage nach Wahrheit und gutem Glauben keine oder nur abschreckende Antworten bereithält. Dies war die frühe Lockung Sozialismus: Das Verlangen nach sinnvermittelnden Antworten durch eine geschichtsgewisse Lehre würde nun gute Nahrung erhalten. Aber jede geschichtsgewisse Lehre leistet totalitären Tendenzen Vorschub - die just deshalb totalitär sind, weil sie in der Gedankenwelt aller das letzte Wort beanspruchen. Christa Wolf beschreibt den Schmerz dieser Erfahrung. Und gleichermaßen erzählt sie von der daraus resultierenden, quälenden Bitternis: dass mit der befreienden Entkopplung der utopischen von der trüben politischen Sphäre - geschehen am Ende des vergangenen Jahrhunderts - auch beinahe unabweislich jener Grundbestand an ethischen Vorgaben verloren ging, den ein Gemeinwesen benötigt.
Aus hoffender Nähe zum neuen Staat, wesentlich gespeist aus befreiender Abkehr vom verfluchten Deutschland Hitlers, war bei dieser Autorin eine naive Innigkeit gekeimt, dann bewusst aktive Teilnahme am forschen Aufbau gewachsen. Teilnahme, die in tiefer Enttäuschung endete, und für die sich mit »Kein Ort. Nirgends« nicht nur ein Novellentitel, sondern eine prägende Lebensmetapher fand. In den Texten des Bandes - im berührenden Porträt über Uwe Johnson etwa - kann gelesen werden, wie Christa Wolf eine Heimatlose wird; sie geht schreibend »der Spur der Schmerzen« nach, dem Hauptsinn ihrer Arbeit (»da kann man sich nicht schonen«). Sie weiß irgendwann, dass sie Staatenlose mitten im Staat ist, eine tapfer frei, unbeirrt menschenliebend Erzählende mitten im Festgezurrten. Sie beschreibt, wie sie mit ihrem Mann Gerhard zu DDR-Zeiten oft auf Landkarten und Globus starrte, aber jeder suchende Blick doch mit gleicher Bilanz: kein Ort, nirgends. Das Westdeutschland nebenan schon gar nicht.
Umso mehr behauptete Christa Wolf ihre trotzende Feinfühligkeit. Wenn sie in einem Interview über die DDR sagt: »Wir haben dieses Land geliebt«, so ist dies eben keinesfalls die Verteidigung des so rüden wie hilflosen Ein-Parteien-Systems, sondern Hoffnung, »dass so ein Satz dazu beitragen könnte, etwas differenzierter mit den Menschen, die dort gelebt haben, umzugehen«. Denn mag das Geschichtsurteil über ein System noch so bitter sein: Dahinter breiten sich doch stets Millionen verschiedener Lebensfäden aus. Hinter jedem glatten Schema, das die vermeintlichen Welt-Richter aufmachen, liegt doch ein Wirbel und Knäuel der vielfältigsten Gestimmtheiten, Motive, Sehnsüchte und Entscheidungen.
Immer wieder um Frühe und Beginn kreist das Buch. Wenn die eigene Frühe mit dem Wiederanfang eines ganzen Volkes zusammengeht, dann mag es in späteren Jahren schwerfallen, sich vor Sentimentalität zu schützen und neben dem Bild des Blühens auch die Zeichen des Verblühens zu sehen. Christa Wolf schreibt gegen solche Ausblendung an. Erschütternd ihr Bericht über das 11. Plenum des ZK der SED 1965, ihr nicht vorgesehener Redebeitrag in »aggressiver, denunziatorischer Atmosphäre«, der dem niederkritisierten Erzähler Werner Bräunig beispringt. Eine Rede »mit einem Satz, der in diesem Saal wohl noch nie geäußert worden war: ich könnte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.«
Es ist das Buch einer Schriftstellerin, die trotz aller Brücken- und Weltstürze ringsum doch unbeirrbar - wenn auch leiser und leiser - das Aufrichtende gegen das Auflösende denkt, sie spricht vom »Grundvertrauen in den Anstand vieler Menschen«. Sie weiß, dass sich die Sinnbedürfnisse auf geraume Zeit nicht mehr mit Verheißungen stillen lassen. Denn jenes Versprechen, das jede Utopie ihrem Begriff nach enthält, muss von einem hoffnungsvollen Generalimpuls getragen sein. Ein Impuls, wie er die Epoche seit der Aufklärung charakterisierte: die von keinem Zweifel angefochtene Gewissheit, dass der Mensch, unter wie großen Mühen und über wie viele Durchgangsstationen auch immer, die Unvollkommenheiten der Verhältnisse überwinden und die Welt aus eigenem Willen gleichsam neu erschaffen könne. Aber gerade dieser Glaube ist bis zum Rest aufgezehrt, zwischen ihm und der Gegenwart liegen die Tragödien der »verwirklichten« und damit als verwirkt beleumundeten Ideale.
Vorbei der Frischmut, die Naivität des Nachkriegs-Wagnisses, ein Frischmut, »in bestimmten Situationen unverzichtbar, in denen die volle Einsicht in alle Zusammenhänge und Konsequenzen der widersprüchlichen Realität« jede umstürzlerische Bewegung »lähmen würde«. Ja, vorbei. Doch auch die gewonnene Freiheits-Ordnung kann offenbar immer weniger jene sinnstiftenden Voraussetzungen erzeugen, von denen ihre Existenz abhängt. »Die Zeiten sind schärfer, gnadenloser, hoffnungsloser und liebeleerer geworden.«
Christa Wolf: Rede, dass ich dich sehe. Essays, Reden, Gespräche. Suhrkamp Verlag Berlin. 208 S., geb., 19,95 Euro
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Kassandra ist nicht gescheitert, sondern besiegt, vernichtet, getötet. Aber sie hat, ebenso wie Medea, das Ihrige getan, ist nicht stumm geblieben oder hat sich unterworfen. Wie wäre denn die Geschichte, wenn es solche Figuren nicht gegeben hätte? Trostlos! Wir müssen schon mutig sein.
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Uwe (Johnson - d.R.) hatte einen glänzenden Einfall: Er wollte bei mir ein »geheimes Konto« einrichten, auf das wollte er alle Wörter und Sätze einzahlen, die er durch seinen »inneren Zensor« streichen lasse, um der DDR nicht zu schaden. Da werde einiges zusammenkommen.«
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Worum hätten wir tiefer zu trauern als um den Verlust der Liebe? Wo aber Trauer ist, ist Hoffnung.
Zitate aus dem besprochenen Band. Das Buch enthält auch großartig farbige Beschreibungen Christa Wolfs von bildenden Künstlern (Carlfriedrich Claus, Nuria Quevedo, Angela Hampel, Ruth Tesmar u.a.). Die Sprach-Arbeiterin staunt über den sinnlichen Kosmos jener anderen Kunst, die wohl unmittelbarer an des Menschen Empfindung rührt, als das Wort es vermag.
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