Indiens Zensus offenbart soziale Widersprüche
In mehr als der Hälfte aller Haushalte gibt es zwar Telefone, aber keine eigene Toilette
Einer der eklatantesten Widersprüche in Indien dürfte sein, dass 63,2 Prozent der Haushalte zwar einen Telefonanschluss besitzen, 53,2 Prozent davon auch über Mobilfunk erreichbar sind - aber nur knapp 47 Prozent über eine Toilette verfügen. Etwas mehr als drei Prozent benutzen öffentliche Toiletten, und knapp die Hälfte verrichtet ihre Notdurft irgendwo im Freien. Und das, obwohl Organisationen wie Sulabh International sich seit Jahrzehnten landesweit um die Einrichtung von Sanitäranlagen bemühen. Zensus-Kommissar C. Chandramouli erklärte dazu vor der Presse: »Kulturelle und traditionelle Gründe sowie Mangel an Bildung scheinen die Hauptgründe für diese unhygienischen Praktiken zu sein. Wir müssen noch viel mehr tun, um dieses große Problem in den Griff zu bekommen.«
Überraschend auch, dass noch immer zwei Drittel aller Haushalte wie zu Urgroßmutters Zeiten Holz, Ernteabfälle, getrocknete Kuhfladen oder Kohle für die Kochfeuer verwenden. Viele Frauen ziehen sich durch die Rauchentwicklung chronische Atemwegserkrankungen zu. Lediglich 32 Prozent können sicheres Trinkwasser verwenden. In den ländlichen Gebieten sind die Wege zu Brunnen oder Wasserlöchern im Durchschnitt länger als einen halben Kilometer.
Als deutlicher Entwicklungserfolg wird der Anstieg der Nutzung von Elektroenergie in 67 Prozent der Haushalte bewertet, vor zehn Jahren waren es nur 56 Prozent. Doch bleiben die stundenlangen Stromausfälle in Stadt und Land ein ernstes Problem. Für 45 Prozent ist das Fahrrad noch immer das hauptsächliche Fortbewegungs- und Transportmittel. 47,2 Prozent besitzen inzwischen ein Fernsehgerät. Selbst in den provisorischen Unterkünften der Wanderarbeiter steht heutzutage häufig ein Fernseher.
Völlig unerwartet signalisieren die Daten der Volkszählung zudem ein besonderes soziales Phänomen. Bisher galt die mehrere Generationen einschließende indische Großfamilie als die gesellschaftliche Norm. Sie konnte soziale Härten und Schwierigkeiten ausgleichen und besser überwinden. Doch jetzt offenbaren die Zählungsresultate, dass bereits 70 Prozent aller Familien nur noch aus einem Ehepaar (in der Regel mit mehreren Kindern) bestehen. Die Experten sprechen von der sogenannten Nukleusfamilie. Die Zeitung »The Hindu« bezeichnete das als »dramatische Veränderung im Verlaufe von gerade mal einer Generation«.
Interessant ist auch, dass 86,6 Prozent in ihrer eigenen Wohnung oder im eigenen Haus leben, 37,1 Prozent allerdings in nur einem Zimmer. Aufschlussreich sind diese Daten nicht nur für Soziologen und Experten in der staatlichen Plankommission, sondern auch für die Industrie, vor allem die Werbung und die Konsumgüterbranche.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.