Indiens Zensus offenbart soziale Widersprüche

In mehr als der Hälfte aller Haushalte gibt es zwar Telefone, aber keine eigene Toilette

  • Hilmar König
  • Lesedauer: 2 Min.
Indiens nationale Wahlkommission hat neue Daten der Volkszählung 2011 veröffentlicht, die sich diesmal vor allem auf die 246,6 Millionen Haushalte beziehen und etliche unerwartete Widersprüche und Trends offenbaren.

Einer der eklatantesten Widersprüche in Indien dürfte sein, dass 63,2 Prozent der Haushalte zwar einen Telefonanschluss besitzen, 53,2 Prozent davon auch über Mobilfunk erreichbar sind - aber nur knapp 47 Prozent über eine Toilette verfügen. Etwas mehr als drei Prozent benutzen öffentliche Toiletten, und knapp die Hälfte verrichtet ihre Notdurft irgendwo im Freien. Und das, obwohl Organisationen wie Sulabh International sich seit Jahrzehnten landesweit um die Einrichtung von Sanitäranlagen bemühen. Zensus-Kommissar C. Chandramouli erklärte dazu vor der Presse: »Kulturelle und traditionelle Gründe sowie Mangel an Bildung scheinen die Hauptgründe für diese unhygienischen Praktiken zu sein. Wir müssen noch viel mehr tun, um dieses große Problem in den Griff zu bekommen.«

Überraschend auch, dass noch immer zwei Drittel aller Haushalte wie zu Urgroßmutters Zeiten Holz, Ernteabfälle, getrocknete Kuhfladen oder Kohle für die Kochfeuer verwenden. Viele Frauen ziehen sich durch die Rauchentwicklung chronische Atemwegserkrankungen zu. Lediglich 32 Prozent können sicheres Trinkwasser verwenden. In den ländlichen Gebieten sind die Wege zu Brunnen oder Wasserlöchern im Durchschnitt länger als einen halben Kilometer.

Als deutlicher Entwicklungserfolg wird der Anstieg der Nutzung von Elektroenergie in 67 Prozent der Haushalte bewertet, vor zehn Jahren waren es nur 56 Prozent. Doch bleiben die stundenlangen Stromausfälle in Stadt und Land ein ernstes Problem. Für 45 Prozent ist das Fahrrad noch immer das hauptsächliche Fortbewegungs- und Transportmittel. 47,2 Prozent besitzen inzwischen ein Fernsehgerät. Selbst in den provisorischen Unterkünften der Wanderarbeiter steht heutzutage häufig ein Fernseher.

Völlig unerwartet signalisieren die Daten der Volkszählung zudem ein besonderes soziales Phänomen. Bisher galt die mehrere Generationen einschließende indische Großfamilie als die gesellschaftliche Norm. Sie konnte soziale Härten und Schwierigkeiten ausgleichen und besser überwinden. Doch jetzt offenbaren die Zählungsresultate, dass bereits 70 Prozent aller Familien nur noch aus einem Ehepaar (in der Regel mit mehreren Kindern) bestehen. Die Experten sprechen von der sogenannten Nukleusfamilie. Die Zeitung »The Hindu« bezeichnete das als »dramatische Veränderung im Verlaufe von gerade mal einer Generation«.

Interessant ist auch, dass 86,6 Prozent in ihrer eigenen Wohnung oder im eigenen Haus leben, 37,1 Prozent allerdings in nur einem Zimmer. Aufschlussreich sind diese Daten nicht nur für Soziologen und Experten in der staatlichen Plankommission, sondern auch für die Industrie, vor allem die Werbung und die Konsumgüterbranche.


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