Man versucht zu leben
Booker-Preisträger Aravind Adiga erzählt vom heutigen Mumbai
Was macht man, wenn die Gesellschaft ungerecht ist und der Sozialismus nicht kommt? Heute nicht, morgen nicht und in fünfzig Jahren nicht. Man versucht zu leben, was für die meisten Menschen auf der Erde überleben bedeutet. Zum Beispiel in Indien, wo der Abstand zwischen Arm und Reich immer größer wird.
Der indische Schriftsteller und Booker-Preisträger Aravind Adiga ist ein genauer Beobachter dieser Entwicklung. In »Letzter Mann im Turm«, seinem jüngsten Roman, geht es um die rasanten Veränderungen in Mumbai, dem früheren Bombay. Die Millionenstadt am arabischen Meer wird wie europäische Großstädte von der sogenannte Gentrifizierung geplagt - der Verdrängung ärmerer Bevölkerungsteile aus ihren Wohngebieten zugunsten von Einwohnern mit mehr Geld. In Vakola, einem Stadtteil unterhalb des internationalen Flughafens, will der Bauunternehmer Dharmen Shah ein Haus kaufen, es abreißen und Luxusappartments errichten. Doch das Haus ist im Besitz der »Vishram Society«, einer Eigentümergenossenschaft. Die Bewohner - Buchhalter, kleine Händler, Lehrer - hatten ihre Appartements mühselig über Jahre abbezahlt.
Doch trotz des schlechten Zustands des »Turms«, wie die Bewohner der Vishram Society ihr Haus nennen, bietet Dharmen Shah den Bewohnern den zehnfachen Marktpreis für ihre Wohnungen. Ein Angebot, das die Bewohner eigentlich nicht ablehnen können. Es ermöglicht ihnen nicht nur, in eine bessere Gegend zu ziehen, sondern auch, ein besseres Leben zu führen. Trotzdem gibt es bei einigen Widerstand gegen den Verkauf. Sie wollen in ihrem alten Umfeld wohnen bleiben.
Gespannt liest man von den Veränderungen, die durch den angekündigten Geldregen in den Bewohnern der Vishram Societyihnen vorgehen und von ihrem schwankenden Verhalten gegenüber der »Oppositionspartei«, wie die drei Bewohner genannt werden, die zunächst nicht verkaufen wollen (und für den Verkauf sind die Stimmen aller nötig).
Dabei wird »Der letzte Mann im Turm«, der Lehrer Masterji, nicht als Widerstandsheld idealisiert. Einerseits wehrt er sich bis zuletzt gegen die Vertreibung aus seiner Wohnung; andererseits wird sein Nein zum Verkauf immer mehr zur kohlhaasschen Prinzipienreiterei. Was etwa ist mit seiner Nachbarin, die einen geistig behinderten Sohn pflegen muss, für die das Geld ein Segen wäre? Endlich könnte sie sich eine Pflegerin für den Jungen leisten.
Adiga spielt die Möglichkeiten durch, die dem Widerstand bleiben. Das Ergebnis ist, wie die Aussichten auf den Sozialismus und eine gerechte Gesellschaft, nicht einfach zu verdauen.
Aravind Adiga: Letzter Mann im Turm. Aus dem Engl. von Susann Urban und Ilija Trojanow, C. H. Beck. 515 S., geb., 19,95 €.
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