Alltag unter Touristen
»6 x Venedig« von Carlo Mazzacurati
Wie das Erlebnis Venedig sich für den Touristen anfühlt, kennt man aus eigener Erfahrung. Wie es sich lebt in der Serenissima, wenn man nicht ein paar Tage dort verbringt, sondern ein ganzes Leben, das wissen die wenigsten von uns. Carlo Mazzacurati, Regisseur von Spielfilmen, selbst aus der schönen Stadt Padua im venezianischen Hinterland gebürtig, wo der Markuslöwe aus dem Stadtwappen Venedigs an jedem Uhrturm prangt und die Dominanz der Lagunenstadt augenfällig macht, hat Familie in Venedig und verirrte sich trotzdem stets in den namenlosen Gassen. Das hat sich geändert.
»Sei Venezia«, der Dokumentarfilm, den Mazzacurati über die Sicht auf die vielleicht schönste Stadt der Welt aus der Alltagsperspektive drehte, trägt sein Programm im Titel, zumindest im italienischen. »Sei Venezia« heißt zweierlei: Du bist Venedig, und, etwas abgekürzt, auch: sechs Mal Venedig. Weil sich das Wortspiel auf Deutsch nicht wiederholen ließ, heißt er hier nun schlicht: »6 x Venedig«. Sechs Mal, weil Mazzacurati mit sechs Bürgern Venedigs sprach, die die Ausnahmestadt von innen heraus schildern. Wobei auch ihre Sicht selten einfach nur alltäglich ist, sondern die historischen, geografischen und emotionalen Besonderheiten der Stadt reflektiert.
Da ist der Rentner, der bei der ehrenamtlichen Mitarbeit im Stadtarchiv seine Heimat neu entdeckt, der sich morgens im winterlichen Nebel mit dem Bus aufmacht vom festländischen Mestre über den Damm nach Venedig, das er über die lange heftig umstrittene neue Brücke von Santiago Calatrava betritt (sie war schlüpfrig unter den Füßen, die Geländer zu niedrig, die Unfallgefahr hoch), die vom Busbahnhof in das autofreie Zentrum führt. Im Archiv zeigt er stolz alte Bebauungspläne her - und weist vor laufender Kamera eine Kollegin wegen eines physischen Ticks zurecht, eine Ehrenamtliche wie er und sein mögliches spätes Glück im Alter.
Da ist das Zimmermädchen im plüschig-altfeinen Luxushotel Danieli, das den Regisseur an die Venezianerinnen auf Tiepolo-Fresken erinnert, Tochter und Enkelin von Zimmermädchen und von Gondolieri, die sich hier hoffentlich nicht um Kopf und Kragen redet, wenn sie erzählt, wie sie Jerry Lewis' Zimmer putzte und seinen Geruch liebte, weil sie seine Seife kannte, aber nie mit Brad Pitt zu sprechen wagte, weil der so abweisend blickte, als sie es einmal fast versucht hätte. Und dann von ihrem Vater, der einmal vor einer Filmkamera so tun durfte, als ob er Marcello Mastroianni in den Kanal stieße, und von ihrem toten Bruder, der auch Gondoliere war.
Da ist Ramiro, der einst zur Bande eines stadtbekannten Einbrechers gehörte und ein von Diebeszügen finanziertes Leben in Saus und Braus führte, und heute am Tresen seiner Eckkneipe hängt, aussieht wie ein verwahrloster Indianer, seine Lippen beim Lächeln zusammenpresst, um Zahnlücken zu verbergen - und hofft, dass seine Kinder den Film nicht sehen werden. Oder Carlo Memo, der von einer einsamen Insel in der Lagune zugezogene Maler, der auf der Spitzenklöppler-Insel Burano seine liebe Mühe mit den Nachbarn hat, die seine Kunst nicht schätzen, weshalb er sie vor laufender Kamera verunglimpft, was seine Situation vor Ort sicherlich nicht bessern wird.
Da ist Ernesto Canal, ein alter Archäologe, der seine Wissenschaft vor Ort erlernte und mit den offiziellen Stellen der venezianischen Ausgrabungs- und Denkmalpflegebehörde Zeit seines Wirkens ein angespanntes Verhältnis pflegte, mit seiner angelsächsischen Freundin in einem Haus voller Fundstücke und Unterlagen, Blumen und Memorabilia. Und schließlich Massimo, der Sohn von Wirtsleuten in einem der sozial schwächeren Neubauviertel der Stadt, der in seinem Kinderzimmer von seiner Leidenschaft für Bruce Lee erzählt und von der Klassenkameradin, auf die er ein Auge geworfen hat. Und von seinen Eltern, die sich immer noch verliebt ansehen. Der seine Mutter vergöttert und von seinem Vater das Singen abgelauscht hat, und der singend den Film beenden darf, weil in seiner Jugend die Zukunft Venedigs liegt.
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