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Verfall und Aufbauwahn
Die diesjährigen Usedomer Literaturtage stellen Rumänien ins Zentrum - als Land im Zwiespalt
Zigeuner, Dracula und die sprichwörtlich gewordene Walachei - ist von Rumänien die Rede, so werden oft Klischees heraufbeschworen. Die Usedomer Literaturtage wollen dies durchbrechen - und bieten den Blick auf eine vielfältige Kulturlandschaft. »Viele Menschen haben immer noch die Vorstellung, Rumänien liege jenseits der Zivilisationsgrenze«, meint Festival-Intendant Thomas Hummel. »Dabei handelt es sich um ein kulturell reiches Gebiet, wo Rumänen, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Armeniern, Juden, Ungarn und Österreicher zusammen gelebt haben.«
Suchen nach Vlad
Der Blick auf diese »wortreichen Landschaften«, so das Festival-Motto, wurde am Mittwoch in Heringsdorf mit dem Film »Die Wahrheit über Dracula« von Stanislaw Mucha eröffnet. Die für den Grimme-Preis nominierte Dokumentation folgt den Spuren von Vlad dem Pfähler. Dieser walachische Fürst aus dem 15. Jahrhundert pflegte Räuber vorzugsweise durch Pfählung hinzurichten. Posthum wurde er zur Kunstfigur des Dracula verklärt.
Bei seiner Erkundung der Dracula-Klischees entdeckt Mucha allerlei Skurriles in einem bitterarmen Land: Kirchenruinen neben touristischen Souvenir-Höllen, rüstige Greise und tote Pferde, einen Professor im samtenen Schlafrock und einen Museumsleiter, der tatsächlich den Titel »Ruinendirektor« trägt. Schwer erträglich ist die allerorten verkündete Überzeugung: Heute bräuchten wir auch so einen wie Vlad, der mit dem Gesindel richtig aufräumt.
Muchas Film gibt auch einen Einblick in die Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die sich »nach dem Fall des Eisernen Vorhangs binnen eines Jahres erledigt hat, weil alle nach Deutschland gingen«. Das erzählt der siebenbürgische Pfarrer Eginald Schlattner, der sich nun mangels Gemeinde im Gottesdienst selbst den Segen erteilt und mit den Seelen auf dem Friedhof spricht.
»Dieser Film war eine wichtige Ergänzung für mein Rumänienbild«, erklärte die Berliner Schriftstellerin Tanja Dückers danach in der etwas langatmig moderierten Diskussion. »Er zeigt die Gegenseite zu Bukarest und den fein hergerichteten Gegenden der Neureichen.«
Diese Gegenseite präsentierte Tanja Dückers dann in einem eigenen Text über Sibiu (Hermannstadt), das vor fünf Jahren als Kulturhauptstadt von einem euphorischen Aufbauwahn erfasst wurde. Ernest Wichner, Autor und Leiter des Literaturhauses Berlin, brachte zwar interessante Diskussionsbeiträge ein; seine Gedichte ließen jedoch keinen Zusammenhang mit dem eigentlichen Thema des Abends erkennen.
Heute kommt Filmprotagonist Eginald Schlattner auch persönlich nach Usedom. Der Pfarrer hat vor zwölf Jahren den Roman »Rote Handschuhe« geschrieben, in dem er von seinen Erlebnissen im stalinistischen Rumänien erzählt: Er wurde verhaftet und wegen »Nichtanzeige zum Hochverrat« verurteilt. Bei der Veranstaltung im Palace Hotel Zinnowitz wird außerdem die Verfilmung dieses Buches von Radu Gabrea gezeigt.
Am Samstag gibt es eine Doppellesung. Zunächst erzählt Filip Florian in seinem Buch »Die Tage des Königs« das Schicksal eines deutschen Zahnarztes im 19. Jahrhundert, der einem Hohenzollernprinzen auf seinen Königsthron nach Bukarest folgt. Hintergrund sind die Kämpfe gegen die anstürmenden Osmanen. Die Hauptfigur in Jan Koneffkes Roman »Die 7 Leben des Felix Kannmacher« flüchtet hingegen 1934 aus Deutschland nach Bukarest und gibt sich als Siebenbürger Sachse aus.
Preis geht nach Polen
Zum Abschluss der diesjährigen Literaturtage am Sonntag in Lüttenort/Koserow erhält die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk den Usedomer Literaturpreis. Sie hat sich bislang vor allem mit der Grenzregion Niederschlesien beschäftigt. Soeben wurde auf der Leipziger Buchmesse ihr neuer Roman »Gesang der Fledermäuse« vorgestellt.
Die Usedomer Literaturtage finden noch bis zum 1. April an verschieden Orten der Ostseeinsel statt. Das Programm und die Veranstaltungsorte im Internet unter:
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