Alt werden im Hightech-Heim

Modellversuch in Burgstädter Genossenschaft endet mit einem bezahlbaren Konzept

  • Hendrik Lasch, Burgstädt
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Anteil älterer Menschen steigt stetig. In Sachsen wurden deshalb technische Lösungen entwickelt, die es Senioren erlauben, trotz einiger Gebrechen in ihrer eigenen Wohnung zu bleiben. Das Modell scheint zukunftsträchtig.
Eberhard Kerbe: Den Fernseher programmiere ich schließlich auch.
Eberhard Kerbe: Den Fernseher programmiere ich schließlich auch.

Einmal Alarm zur Probe: Eberhard Kerbe legt einen nassen Lappen auf ein Kästchen, das auf dem Boden in seiner Küche steht. Nur einen Augenblick später meldet sich per Telefon die Notrufzentrale der »Volkssolidarität« in Chemnitz. Kerbe gibt Entwarnung: »Das war ein Test.« Würde allerdings gerade seine Wohnung voll Wasser laufen, weil er vergessen hätte, den Hahn zu schließen - spätestens jetzt könnte der Rentner eingreifen. Wäre das nicht möglich, würde Hilfe vorbeigeschickt.

Mehr Sicherheit in eigenen vier Wänden

Die Wohnung von Kerbe und seiner Frau in einem Mehrfamilienhaus in Burgstädt steckt voller solcher Sensoren. Sie registrieren, ob der Herd noch angeschaltet ist, wenn die Bewohner das Haus verlassen; sie können erkennen, ob jemand längere Zeit reglos im Bad liegt, und merken, welche Fenster beim Zubettgehen noch offen sind. Auf einem Bildschirm im Flur werden die Bewohner darauf ebenso hingewiesen wie auf die fällige Einnahme von Medikamenten. »Diese Funktion«, sagt der 73-Jährige, »nutzen wir aber noch nicht.«

Dennoch führt Familie Kerbe schon einmal vor, wie Rentner in ein paar Jahren leben könnten. Ihre Wohnung ist Teil eines vom Bundesministerium für Forschung koordinierten Projekts, in dem es darum geht, Senioren zu mehr Selbstständigkeit und Sicherheit in ihren eigenen vier Wänden zu verhelfen. Beteiligt ist der Verband der sächsischen Wohnungsgenossenschaften (VSWG). »Wir wollten herausfinden, wie wir Wohnungen umgestalten müssten, damit unsere älteren Mieter möglichst spät oder gar nicht in ein Heim ziehen müssen«, sagt Vorstand Axel Viehweger.

Der Verband stellt sich damit auf ein drängendes Problem ein: das einer zunehmend älteren Bevölkerung. Schon heute ist jeder vierte Sachse über 65 Jahre alt; bei den Genossenschaften beträgt das Durchschnittsalter der Mieter 61 Jahre. Viele werden gebrechlicher, möchten ihre vertraute Umgebung aber nicht verlassen. Der VSWG setzt deshalb auf das Konzept einer »mitalternden Wohnung«. Gefragt sind laut Viehweger »Barrierefreiheit, Sicherheit und Hilfen für Alltag und Gesundheit«. Anbieten möchte man ein Baukastensystem: »Es soll nur eingebaut werden, was der Mieter wünscht und benötigt.«

Wie eine solche Wohnung aussehen kann, ist in Burgstädt seit Juli 2010 auf 57 Quadratmetern zu besichtigen. Zunächst sei der Grundriss verändert und die Wohnung großzügiger gestaltet worden, sagt Rainer Richter, Vorstand der örtlichen Wohnungsgenossenschaft. Zudem wurden Schwellen entfernt und eine ebenerdige Dusche eingebaut. Danach folgten die elektronischen Assistenzsysteme, die gemeinsam mit sächsischen Wissenschaftlern entwickelt wurden - von den dezent angebrachten Sensoren über eine Kamera, die klingelnde Besucher ankündigt, bis zu einem Videotelefon, das die Verbindung zu »Volkssolidarität« und Stadtverwaltung, später vielleicht auch zu Arzt und Apotheke herstellt.

Berührungsängste Älterer werden schwinden

Familie Kerbe, die seit Februar 2011 in der Wohnung lebt, ist äußerst angetan - und fühlt sich von der Technik auch nicht überfordert: »Den Fernseher«, sagt Eberhard Kerbe, der zuvor in seinem Arbeitsleben nie einen Computer nutzte, »programmiere ich ja auch selbst.« Zudem werden die Mieter durch die Genossenschaft und die »Volkssolidarität«, die im Wohngebiet eine Sozialeinrichtung betreibt, unterstützt. Das sei entscheidend für den Erfolg, betont VSWG-Chef Viehweger: »Nichts wäre schlimmer als eine aufgerüstete Wohnung, deren Bewohner allein gelassen werden.«

Deshalb wird bei der Entwicklung eng mit Sozial- und Wohlfahrtsverbänden kooperiert. Eine zweitägige Konferenz, bei der von heute an der Modellversuch ausgewertet wird, führen der Verband der Wohnungsgenossenschaften und die Liga der freien Wohlfahrtspflege, ein großer Sozialverband, gemeinsam durch. Beide unterzeichneten zudem kürzlich eine erste Vereinbarung über eine »langjährige« Zusammenarbeit.

Erforderliche neue Ansätze bei der Betreuung älterer Menschen könnten von technischen Innovationen, wie sie in Burgstädt getestet werden, in Zukunft gut ergänzt werden, findet Liga-Chef Rüdiger Unger. Während Senioren jetzt womöglich noch gewisse Berührungsängste haben, wird das in ein paar Jahren kaum mehr der Fall sein. Schließlich seien »die älteren Menschen der Zukunft die jungen Menschen von heute«, sagt Unger - und die seien den Umgang mit Technik längst gewöhnt.

Elektronische Helfer werden bezahlbar

Interessanter als die Frage nach der Akzeptanz ist denn auch die nach den Kosten. Die Burgstädter Modellwohnung hätte nicht von Familie Kerbe bezahlt werden können. Der Umbau der Pilotwohnung habe satte 62 000 Euro gekostet, räumt Genossenschaftschef Richter ein. 36 000 Euro waren für die Beseitigung von Barrieren und die Veränderung des Grundrisses notwendig, deren Ergebnis eine geräumige Diele samt angrenzender offener Wohnküche ist. Einen fünfstelligen Betrag verschlangen aber auch die Entwicklung und der Einbau der Sensoren und elektronischen Systeme - für normale Mieter nicht zu bezahlen.

Die Kosten freilich wurden während der Laufzeit des Projektes bereits deutlich gesenkt. Für ein komplettes Hightech-Paket müssen derzeit noch 5000 Euro aufgewendet werden; in ein paar Jahren will man bei 2500 Euro je Wohnung angekommen sein. Damit, sagt Richter, seien die elektronischen Helfer künftig bezahlbar. Gleichwohl drängt der Genossenschaftsverband auf neue Lösungen für die Finanzierung der Technik. Deren Einbau könnte nach Vorstellungen des VSWG zu je einem Drittel von Mietern, Vermietern und dem Staat finanziert werden. Die zusätzlichen Betriebskosten, so Richter, betragen 30 Euro im Monat. Daran könnten sich die Krankenkassen beteiligen, fordert Verbandschef Viehweger: »Schließlich müssen die Menschen nicht ins Heim.«

Angesichts solcher Zahlen stößt die Idee zunehmend auf mehr als technisches Interesse. In der Burgstädter Genossenschaft, durch deren erste Modellwohnung Tausende Besucher aus Politik und von Sozial- und Wohnungsverbänden sowie viele Journalisten pilgerten, gibt es inzwischen eine zweite Hightech-Wohnung; weitere werden bei Genossenschaften in Leipzig und Hoyerswerda erprobt. In den sächsischen Genossenschaften, sagt Verbandschef Viehweger, könnten 30 000 Wohnungen an Bedürfnisse älterer Mietern angepasst werden. Das wäre immerhin ein Zehntel ihres gesamten Bestands.

Es gibt einen weiteren Grund dafür, dass auf diese Weise Barrieren aus Wohnungen verschwinden und Sensoren, Kameras und Bildschirme Einzug halten. Viele der Systeme, die Rentnern im Alltag helfen, würden auch junge Familien mit Kindern zu schätzen wissen, heißt es beim VSWG: »Wo ein Rollstuhl durchpasst, hat auch ein Kinderwagen gut Platz«, sagt dessen Chef. Auch für Reha-Patienten, die zu Hause betreut werden sollten, seien einige der Systeme sehr gut nutzbar, wie in einer dritten Wohnung in Burgstädt bald gezeigt werden soll.

In der Wohnung von Familie Kerbe wird vorerst nichts mehr eingebaut; statt dessen wird die schöne neue Welt der Technik zunehmend alltäglich werden. Die Zahl der Besucher, die sich zeitweise fast die Klinke in die Hand gaben, wird abflauen. Den Gästen, die zu ihnen kommen, werden Kerbes aber weiter in den höchsten Tönen von ihrem Hightech-Heim vorschwärmen - und auf Wunsch vielleicht sogar mit einem nassen Lappen einen Probealarm auslösen.

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