Libanon: Hoffnung und Angst

Nach Inkrafttreten des Waffenstillstands kehren die Menschen zurück in ihre Häuser im Südlibanon

Eine Libanesin steht inmitten der Trümmer der zerstörten Küche in ihrer Wohnung in der südlibanesischen Stadt Tyrus.
Eine Libanesin steht inmitten der Trümmer der zerstörten Küche in ihrer Wohnung in der südlibanesischen Stadt Tyrus.

Als der schwere Bulldozer einige Meter ruckartig zurücksetzt, springt die Menge der Neugierigen stumm zur Seite. Es sind Bewohner und Nachbarn des in Trümmern liegenden Mehrfamilienhauses, viele sind erst vor Stunden aus Beirut zurückgekehrt. Nachdem der Bulldozer eine von dem Dach des sechsstöckigen Hauses heruntergefallene Betonplatte beiseite geräumt ist, wagt sich Mohammad Haidar vorsichtig über die Trümmer in seinen Laden. Der rechte Teil seines kleinen Supermarktes ist eingestürzt, als eine israelische 2000-Kilo-Bombe mehrere Stockwerke aus dem Gebäude herausgerissen hat.

»Als wäre das Haus aus Papier«, sagt er und schaut nach oben, um zu sehen, ob sich weitere Trümmer lösen könnten. Betonstücke, Glas und Möbel liegen auf der Straße. Stumm suchen die anderen zurückgekehrten Bewohner in dem Chaos nach ihren Habseligkeiten. Mohammad Barakat wischt die dicke Staubschicht von einer Konservendose, die aus dem Regal gefallen war und neben Kleidungsstücken aus den Wohnungen darüber auf dem Boden lag. »Nach vier Tagen Arbeit könnte ich den Laden wieder eröffnen«, sagt der 44-Jährige, »aber es gibt ja weder Wasser noch Strom in unserem Viertel.«

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Die Menschen in Tyror sind dickköpfig

Szenen wie diese spielen sich derzeit überall in Tyros ab. Ein Großteil der ältesten durchgehend besiedelten Städte der Welt liegt in Trümmern. Bürgermeister Hussein Dbouk schätzt die Zahl der von israelischen Luftangriffe zerstörten Wohnsiedlungen auf 55. Wegen der Trümmer, Glas und nicht explodierten Bomben warnen die Behörden vor übereilter Rückkehr. »Uns Tyrern wird im Rest des Landes eine gewisse Dickköpfigkeit zugeschrieben«, sagt Bilal Kaschmar, der Leiter des Zivilschutzes, der sich in den nächsten Monaten auch um die Beseitigung Tausender Tonnen von Trümmern kümmern muss.

Niemand weiß, wie viele nicht explodierte Raketen in ihnen versteckt sind. Während der Bombardierungen der letzten Monate war Kaschmar für das Überleben der verbliebenen 140 000 Bewohner verantwortlich. »Nun scheinen die Tyrer beweisen zu wollen, dass sie tatsächlich dickköpfig sind. Es kommen fast alle zurück, um den derzeit eigentlich unmöglichen Wiederaufbau zu starten.«

Geflüchtete strömen zurück in den Süden

Schon Stunden nach Bekanntwerden der Waffenruhe stauten sich in Beirut die Fahrzeugkolonnen mit Rückkehrern nach Süden, selbst in Richtung noch umkämpfter Gebiete. Das direkte Grenzgebiet zu Israel gilt weiterhin als Sperrgebiet. Die israelische Armee fürchtet Anschläge von als Zivilisten getarnten Hisbollah-Kämpfern, die schiitischen Milizionäre wollen möglich israelische Informanten von ihren versteckten Stellungen in den Bergen fernhalten. Auch wenn offenbar fast alle der über 400 000 aus dem Süden geflüchteten Libanesen in ihre Häuser zurückkehren wollen, trifft man nur wenige, die an einen dauerhaften Waffenstillstand glauben. Das Summen von Drohnen am Himmel über Tyros sehen sie als Beweis, dass die israelische Regierung nur ihre leeren Waffenlager wieder aufstockt und wie von jüdischen Siedlern gefordert einen Grenzstreifen annektieren wird.

Die 2500 Jahre alte Provinzhauptstadt dient als Sprungbrett und Rückzugsgebiet für die Rückkehrer. Selbst in kleinen Dörfern finden sie oftmals nur Zerstörung vor. »Am Tage räumen die Familien die Trümmer ihrer Häuser; vor dem Dunkelwerden und vor Beginn der Ausgangssperre, die die israelische Armee erlassen hat, kommen sie nach Tyros zurück.« Doch auch in der Stadt mangelt es an Baumaterial, Lebensmitteln und Benzin. Wohnraum ist nach der Zerstörung ganzer Straßenzüge knapp.

Libanesen hoffen auf Hilfe aus dem Ausland

Kaschmar hofft auf baldige Hilfe durch die Vereinten Nationen, da die finanziell am Boden liegende libanesische Regierung schon Probleme hat, die Verlegung der Armee in die Pufferzone zu bezahlen. »Die römischen Ruinen von Tyros wurden von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt und wurden in Mitleidenschaft gezogen. Tyros kann als Touristenmagnet irgendwann wieder auf eigenen Füßen stehen, aber wir benötigen internationale Hilfe, um die nächsten Monate mit der Arbeit zu beginnen.«

»Tyros kann als Touristenmagnet irgendwann wieder auf eigenen Füßen stehen, aber wir benötigen internationale Hilfe, um die nächsten Monate mit der Arbeit zu beginnen.«

Bilal Kaschmar Leiter des Zivilschutzes in Tyros

Doch erst, wenn die libanesische Armee und die 10 000 Blauhelme der Unifil-Truppe der Vereinten Nationen die Stellungen der bis Ende Januar abziehenden Hisbollah und israelischen Armee besetzen, wird sich die Lage entspannen, hört man in den Cafés der Stadt. Im Herzen der Stadt, dem vor dem Krieg von Wochenendbesuchern aus Beirut bevölkerten Hafen, ist die Stimmung schlecht.

Fischer leiden unter den von Israel verfügten maritimen Sperrzone

»Ich kann es mir nicht leisten, über die große Politik nachzudenken«, sagt der Fischer Anis Hussein. Er hat sein acht Meter langes Holzboot seetauglich gemacht und flickt Löcher in den Fangnetzen. »Bei unseren Verwandten im Norden haben wie zu viert in einem Zimmer gehaust, ohne Einkommen stand ich zudem vor dem Bankrott.«

Zusammen mit einem Dutzend anderer Fischer diskutiert der 34-Jährige, ob das Fischen vor der Küste wieder sicher ist. Die fischreichen Monate Oktober und November haben die Männer durch den Krieg bereits versäumt. Ob die von der israelischen Armee erlassene Sperrzone noch gilt, wissen sie nicht. Sie dürfen sich der Grenze nicht mehr als 50 Kilometer Entfernung nähern, nur einige der 270 Fischerboote im Hafen von Tyros haben nach Ende der Kämpfe abgelegt. »Dabei ist Fischfang doch der einfachste Weg, die vielen Rückkehrer zu ernähren, die jetzt in Zelten, Autos oder bei ihren Verwandten ausharren.«

Keine Alternativen zur Rückkehr in die zerstörten Städte

Tyros’ Bürgermeister Hussein Dbouk und Bilal Kaschmar vom Zivilschutz bauen auf den Willen der Bürger, das eigentlich Unmögliche zu schaffen. »Die Reparatur der zerstörten Pumpstation für die Wasserversorgung könnte Monate dauern. Ich weiß auch noch nicht, von welchem Geld wir die nötigen neuen Stromleitungen bezahlen sollen. Aber ich höre selten Beschwerden, es gibt keine Alternative zur Rückkehr.«

Überall in der Stadt wird repariert, Trümmer von Hand weggeräumt. Einige der Bewohner pendeln sogar täglich zwischen dem 80 Kilometer entfernten Beirut und Tyros. »Wir sind eben zu dickköpfig, um aufzugeben«, lacht Bilal Kaschmar.

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