Späte Abrechnung mit Putschgenerälen

Prozess gegen türkische Militärjunta von 1980 in Ankara begonnen

  • Jan Keetman, Istanbul
  • Lesedauer: 2 Min.
In Ankara begann am Mittwoch der Prozess gegen die zwei noch lebenden Anführer des Militärputsches in der Türkei von 1980. Die beiden Angeklagten, der heute 94-jährige Kenan Evren und der 87-jährige Tahsin Sahinkaya, erschienen aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Gericht.
Demonstranten vor dem Gerichtsgebäude in Ankara erinnerten an für Opfer des Putsches.
Demonstranten vor dem Gerichtsgebäude in Ankara erinnerten an für Opfer des Putsches.

Von den fünf Mitgliedern der Junta, die 1980 die Macht an sich riss, leben nur noch Kenan Evren, seinerzeit Generalstabschef und Anführer des Putsches gegen die Regierung von Süleyman Demirel, sowie der damalige Chef der Luftwaffe, General Tahsin Sahinkaya. Sowohl der 94-jährige Evren als auch der 87-jährige Sahinkaya hielten sich bei der Prozesseröffnung in Krankenhäusern auf. So mussten sie nicht die Bilder ihrer Opfer sehen, die von Angehörigen an Stangen vor dem Gerichtsgebäude hochgehalten wurden. Mit Sprüchen wie: »Sollen wir ihn aufhängen, oder sollen wir ihn füttern?« hatte Evren nach seinem Putsch zum Tode Verurteilte auch noch verhöhnt.

Nachdem die türkische Bevölkerung seinerzeit durch eine Wirtschaftskrise und eine Welle von Terrorakten verunsichert war, hielt Evren am 12. September 1980 seine Stunde für gekommen. Er erklärte Parlament und Regierung für aufgelöst, verbot Parteien und Gewerkschaften. Noch bevor er seine Panzer auffahren ließ, hatte Evren in der Nacht den Polizeidirektor von Ankara zu sich bestellt und in den Putschplan eingeweiht. Der Polizeichef habe Tränen der Freude in den Augen gehabt, als er hörte, dass seine Untergebenen nun »ohne politischen Druck« arbeiten könnten, schrieb Evren später in seiner Biografie.

Was die Polizei nun »liebend gern«, wie Evren sich ausdrückte, mit Hilfe des Militärs tat, war ungefähr folgendes: 650 000 Personen wurden verhaftet, geschlagen und systematisch gedemütigt. Mindestens 171 Menschen starben unter der Folter, viele andere unter ungeklärten Umständen, begingen Selbstmord oder erlagen später den Folgen der Torturen, wie der Lehrer Enver Karagöz, dem man kochendes Wasser in den Mund geschüttet hatte. Im Brüsseler NATO-Hauptquartier wurde der Putsch heruntergespielt: »Sie werden schon niemanden aufhängen«, wurde als Reaktion kolportiert.

Die Junta gab eine neue Verfassung in Auftrag, die sie zusammen mit der Wahl Evrens zum Präsidenten durch ein Referendum absegnen ließ. Evren amtierte bis 1989. Erst vor anderthalb Jahren wurde per Volksabstimmung die Klausel aus der Verfassung getilgt, die eine Strafverfolgung der Putschisten ausschloss.

Hunderte von Einzelpersonen, Parteien und das türkische Parlament haben sich als Nebenkläger gemeldet. Allerdings geht es der Staatsanwaltschaft nicht ausdrücklich um Folter und Hinrichtungen, sondern allein um die Auflösung der verfassungsmäßigen Ordnung. Dafür drohen Evren und Sahinkaya lebenslange Freiheitsstrafen.

Die Anwälte der Verteidigung beantragten dagegen, dass sich das Gericht für unzuständig erklärt, weil die Gründer des Staates nicht angeklagt werden könnten.

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