Hessische Vergabepraxis
Opposition im Landtag fordert Aufklärung über Ungereimtheiten bei der Polizei
Hessens Innenminister Boris Rhein musste vor dem Landtagsinnenausschuss eingestehen, dass seine Beamten einen Anti-Korruptionserlass, den er noch als Staatssekretär im Jahr 2009 während seiner »Lehrzeit« zum Innenminister geschrieben hatte, nicht ganz wörtlich nehmen. Genau genommen war es ihnen egal, was der Staatssekretär Rhein da von ihnen verlangte. Sie sollten ihm nämlich alle Beschaffungsmaßnahmen mit einem Wert ab 20 000 Euro zur Gegenzeichnung vorlegen. In lediglich vier von 79 Fällen geschah dies auch. »Das heißt, 75 Fälle sind nicht vorgelegt worden. (...) Das ist auch der Grund, warum wir jetzt disziplinarisch und möglicherweise sogar mehr als disziplinarisch vorgehen.«
Rhein reagierte damit auf einen gemeinsamen Berichtsantrag der Opposition im Hessischen Landtag. Die innenpolitischen Sprecher von SPD, Grünen und LINKE, Nancy Faeser, Jürgen Frömmrich und Hermann Schaus luden den Minister zum Rapport. Was er berichtete war selbst für Hessische Korruptionsverhältnisse noch erstaunlich.
Freihändig
Aufträge im Wert von mehreren hunderttausend bis über eine Million Euro vergaben seine Beamten freihändig, ohne jede Ausschreibung. Für die Beamten war das jahrelang ganz normal, schließlich kannten sich Auftraggeber und Auftragnehmer, es handelte sich meist um frühere Kollegen. In die Auftragsabwicklung waren neben dem als Bedarfsträger auftretenden Technikreferat im Landespolizeipräsidium (LPP 6) auch die Hessische Zentrale für Datenverarbeitung (HZD) als Auftragsvergabestelle involviert.
In Amtsdeutsch erklärt liest sich das so: »Durch den Referatsleiter wurden die Bedarfe ermittelt. Sie wurden als Bedarfsanforderungen festgelegt und der HZD mitgeteilt.« Das HZD erteilte die Aufträge. Das HZD bot bereits früher Anlass zu parlamentarischen Untersuchungen.
Die freien Auftragsvergaben betrafen auch IT-Projekte, an denen neben Hessen auch weitere Bundesländer beteiligt sind. So lag bei dem Referat LPP 6 auch die Geschäftsführung für eine seit 2002 bestehende IT-Kooperation mit den Bundesländern Hamburg, Brandenburg und Baden-Württemberg. Minister Rhein: »Das ist das sogenannte INPOL-Land-POLAS-Competence-Center IPCC. Im LPP 6 hat sich eine Geschäftsstelle herausgebildet, die zentrale Projekte der Partnerländer koordinierte und steuerte. Bei diesem Beamten lag zuvor auch (...) ein stellvertretender Unterausschussvorsitz ›Polizeiliche Informations- und Kommunikationsstrategie und -technik‹ des AK II - das ist ein Gremium der Innenministerkonferenz.« Der zuvor zuständige Referatsleiter im LPP 6, Peter H., wurde »umgesetzt«. Ausgerechnet in eine Hessische Polizeischule. Gegen ihn laufen disziplinarische Ermittlungen. Die Geschäftsführung des IPCC-Verbundes wird nun von einem Hamburger Polizeibeamten wahrgenommen.
Aufträge für Pensionäre
Mit Aufträgen bedacht wurden vor allem ehemalige »Mitarbeiter oder Bedienstete des LPP 6«. Einzelne Aufträge beliefen sich auf 635 892,40 Euro brutto, wie etwa der für Herrn Z. von der Firma TOMS-Beratung. Bei Herrn K., ICT Consulting, betrug das Volumen des freihändig Vergebenen 1 221 715,52 Euro brutto. »Hier ist die Bedarfsbegründung gewesen, dass es sich bei Herrn K. um den Nachfolger des eben Genannten gehandelt hat,« so der Minister. Es wurden also mehrere Generationen von Polizei-Pensionären mit Aufträgen versorgt.
Ob allerdings ausgerechnet die Hamburger Polizei vor weiterer Misswirtschaft bei Polizeiprojekten schützt, darf bezweifelt werden. Aus Hamburg kam vor Jahren ein gewisser Harald Lemke, der bevor er in hessische Dienste trat, beim Bundeskriminalamt ein weniger als zweiähriges Gastspiel als IT Direktor gab. In Hessen wurde Lemke der erste für die Informationstechnologie zuständige Staatssekretär und 2008 ganz plötzlich in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Unter Lemkes Verantwortung habe die Landesregierung »hunderte von Millionen Euro versenkt«, erklärte damals der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Reinhard Kahl
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