Angriff auf die Ohren

Wie an vielen Flughäfen leiden auch die Anwohner des DHL-Frachtknotens in Leipzig unter Lärm, der krank macht

  • Hendrik Lasch, Rackwitz
  • Lesedauer: 5 Min.
Am heutigen 25. April ist internationaler »Tag gegen Lärm«. Schwerpunktthema 2012 ist der Fluglärm. Er bringt Anwohner zum Beispiel am Flughafen Leipzig um den Schlaf - und ruiniert ihre Gesundheit.
Nachtflug-Gegner Thomas Pohl.
Nachtflug-Gegner Thomas Pohl.

Der Angriff auf die Ohren beginnt 22.33 Uhr. »Dann wird der Himmel aufgeschlossen«, sagt Thomas Pohl. Er wohnt in einer Siedlung nördlich von Leipzig: Reihenhäuser, Felder, ein See. Es könnte eine ländliche Idylle sein, läge nicht etwas weiter westlich der Flughafen Halle-Leipzig. Dort betreibt die Posttochter DHL ihr europäisches Frachtdrehkreuz, auf dem Pakete aus aller Welt umgeschlagen werden - Nacht für Nacht. Vor Mitternacht landen die Paketflieger, vor dem Morgengrauen heben sie ab. Über Pohls Haus donnern sie in 300 Meter Höhe hinweg.

Als sich Familie Pohl Ende der 90er Jahre für den Umzug aufs Land entschied, lockte sie die Aussicht auf Stille: »Das lauteste, was wir hören würden, sollte das Pappellaub sein«, erinnert sich Pohl. Das Laub raschelt auch heute noch - tagsüber. Dann liegt der Flughafen beinahe verwaist. Allabendlich aber bricht ein infernalischer Lärm los; bis zu 60 Überflüge zählt Pohl. An Schlaf ist kaum zu denken, trotz der Schallschutzfenster. Manchmal flieht er in den Keller oder zu Verwandten. Dort, sagt er, »merke ich, dass das Leben nicht nur aus Lärm besteht«.

Allnächtliches Herzrasen

Eine Ausnahme ist Pohls Fall nicht. Lärm ist Deutschland allgegenwärtig - und notorisches Ärgernis. 62 Prozent der Deutschen, ergab eine vom Umweltbundesamt durchgeführte Befragung im Jahr 2011, fühlen sich von Lärm stark belästigt. Vor allem Verkehrsgeräusche sind ein Problem, noch dazu, wenn sie nachts nicht abflauen. »Das Ohr schläft nicht«, begründet der Mediziner Martin Kaltenbach. Das hat evolutionäre Gründe: Unsere Vorfahren vor Zigtausenden Jahren schreckten auf, wenn ihr Ohr unbekannte Geräusche empfing - ein Mechanismus, der oft Leben rettete.

Bei Lärm »geht der Körper in Hab-Acht-Stellung«, sagt Stefanie Landmann, die 1998 mit ihrer Familie nach Schkeuditz zog - in die Nähe eines »regionalen Flughafens«, wie man ihr damals sagte. Heute rollen jede Nacht wenige hundert Meter entfernt die Frachtmaschinen; Bodenfahrzeuge piepsen penetrant beim Rangieren. Derweil steigen bei Anwohnern Adrenalinpegel, Puls und Blutdruck. Der Mechanismus, der einst Leben rettete, macht jetzt das Leben zur Hölle: »Der Fluchtinstinkt wird aktiviert«, sagt Stefanie Landmann. Pohl schildert, wie er beim ersten Turbinengeräusch »mit Herzrasen munter« wird. Dann liegt er im Bett und wartet, bis der Wecker klingelt. Ohne Ohrstöpsel und Schlaftabletten ist an Schlaf kaum zu denken.

Auch andernorts zeugen Rezepte, die in Apotheken eingelöst werden, von der Intensität des Lärms. Dieser, das ist erwiesen, bewirkt Herz-Kreislauf-Probleme, fördert Depressionen und steigert das Risiko für Schlaganfälle. Laut einer Studie, für die an Großflughäfen geforscht wurde, erhöht ein Anstieg des Krachs um 10 Dezibel das Risiko für Bluthochdruck um 14 Prozent. Nachtlärm ist noch kritischer als hohe Pegel am Tage, weil Erholungsphasen gestört und körperliche Reserven aufgezehrt werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht Verkehrslärm als zweitgrößtes Gesundheitsrisiko nach Luftverschmutzung. Zsuzsanna Jakab, Leiterin ihrer Europa-Abteilung, spricht von einer »echten Bedrohung für die öffentliche Gesundheit«.

Solche Erkenntnisse müssten, meint Landmann, in eine »Gegenrechnung« zu rein ökonomischen Begründungen für die Nachtflüge einfließen. Proteste werden bisher mit einem Totschlagargument abgebügelt: dem der Arbeitsplätze. In Leipzig seien durch die DHL-Ansiedlung rund 3000 Jobs entstanden, heißt es; auch profitierten BMW und Porsche oder der Internethändler Amazon. »Es hat aber noch niemand ermittelt, was die Gesundheitsschäden kosten«, sagt Landmann. »Das Logistikdrehkreuz schafft wenig Nutzen für die direkte Umgebung«, meint auch Peter Richter, ebenfalls Flughafenanwohner. Es sei mit massiver öffentlicher Unterstützung errichtet worden; dann zog DHL aus Brüssel um. »Das ist nichts Nachhaltiges für die Region«, sagt Richter, der auf »unterbezahlte Arbeitsplätze« verweist - und massive Schäden für Gesundheit und Umwelt. Die Ausgleichsmaßnahmen, die der Flughafen bietet, reichten nicht aus: »In vielen alten Häusern sind Schallschutzfenster schlicht wirkungslos.«

Eine »Gegenrechnung«, wie sie Landmann fordert, wird auch andernorts immer öfter angestellt. Die Proteste gegen Fluglärm versetzen ganze Regionen in Aufruhr: In Frankfurt (Main) gibt es »Montagsdemonstrationen«, seit im Oktober 2011 die vierte Startbahn eingeweiht wurde. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar ein Nachtflugverbot bestätigt. Die Bürger aber bleiben aufgebracht; mehrere Kommunen klagten.

Ähnlich turbulent ist die Lage am Flughafen Berlin-Brandenburg International, der im Juni in Schönefeld in Betrieb gehen soll. Er ersetzt Airports in Tempelhof und Tegel. Das bringe zwar eine »erhebliche Lärmentlastung« für bisher geplagte Stadtbewohner, konstatierte das Umweltbundesamt. Zugleich werde aber eine »große Anzahl« Menschen künftig leiden. An- und Abflüge führen über Naherholungsgebiete an Wann- und Müggelsee und bisher ruhige Vororte. Dort laufen die Bürger Sturm. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Oktober 2011 Starts und Landungen in den »Tagesrandzeiten«, also bis 23 und ab 5 Uhr, zugelassen. Die Gegner wollen nun einen Volksentscheid erzwingen.

Auch in Leipzig kämpfen knapp zwei Dutzend Bürgerinitiativen, in denen sich Thomas Pohl, Stefanie Landmann und Peter Richter engagieren. Klagen gegen den Planfeststellungsbeschluss von 2004 und die uneingeschränkte Erlaubnis zu Nachtflügen hatten vor deutschen Gerichten keinen Erfolg. Derzeit ist eine Beschwerde in Strasbourg anhängig. Ziel, sagt Pohl, sei ein Nachtflugverbot. Doch offenbar verfängt der Verweis auf die 3000 Jobs auch bei vielen Bürgern. Zwar gelang es unlängst wenigstens, die Bürgerinitiativen besser zu vernetzten. Zu Demonstrationen aber kommen oft nur ein paar Dutzend, höchstens wenige hundert Menschen.

Wertlose Häuser

An Flughafenbetreibern und -nutzern prallen die Proteste daher ab. DHL habe selbst das Versprechen, die lautesten Flugzeuge zu ersetzen, abgemildert, sagt Pohl. Dass tatsächlich Ruhe einkehrt, ist nicht abzusehen. Zwar empfehlen Mediziner inzwischen, den zulässigen nächtlichen Dauerpegel an Flughäfen wegen der Folgen für die Gesundheit auf 45 Dezibel zu senken - im Außenbereich. Doch so laut, sagt Pohl, sei es bei ihm »auf dem Kissen im Schlafzimmer«.

Und auch wenn durch Lärm der Fluchtinstinkt geweckt wird: An wirkliche Flucht ist für viele Hausbesitzer in Leipzigs Norden nicht zu denken. Die Gebäude, die in der Einflugschneise liegen, haben dramatisch an Wert verloren - auf 40 Prozent sei er gesunken, wurde Richter einmal vorgerechnet. »Wir können nicht verkaufen und wegziehen«, sagt Pohl, dessen Haus noch nicht einmal abbezahlt ist. Selbst Versicherungsbetrug würde nicht helfen, fügt Richter sarkastisch hinzu. Falls jemand auf die Idee käme, das Haus abzubrennen und Versicherungsprämie zu kassieren, »müsste er es an der gleichen Stelle wieder aufbauen.«

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