Algerien wählt ohne Frühlingsgefühle
Bei den Parlamentswahlen gilt die Regierungspartei FLN als Favorit - trotz Unmuts in der Bevölkerung
Als Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika Mitte Februar seinen neuen tunesischen Amtskollegen Moncef Marzouki zum offiziellen Staatsbesuch in Algier empfing, dürfte dabei auch ein Gefühl der Genugtuung mitgeschwungen haben. Im Gegensatz zu Ben Ali (Tunesien), Hosni Mubarak (Ägypten) und Muammar al-Gaddafi (Libyen) hat er den arabischen Frühling scheinbar unbeschadet überstanden und sitzt immer noch sicher auf seinem Präsidentensessel.
Bouteflikas Machtposition werden die Parlamentswahlen am heutigen Donnerstag nicht antasten. Zwar bewerben sich Kandidaten von 44 Parteien um 462 Sitze im algerischen Parlament, doch nach einer unspektakulären Kampagne werden weder ein Sturm auf die Wahlurnen noch ein politischer Wandel erwartet. Die Nationale Befreiungsfront (FLN) gilt als klarer Favorit.
Ein Großteil der Bevölkerung empfindet angesichts Bouteflikas Selbstgewissheit Frustration und Ohnmacht. Die Algerier werden immer noch von einem Machthaber der Art regiert, wie sie in den anderen Ländern hinweggefegt worden sind. Auch in Algerien hatten sich in den bewegten Januarwochen 2011 Menschen aus Verzweiflung über ihre aussichtslose Lebenslage selbst verbrannt. Aber im Gegensatz zur Verzweiflungstat des Tunesiers Mohamed Bouazizi, die zur Initialzündung für den »arabischen Frühling« wurde, blieben die der jungen Algerier ohne Echo. Sie reihten sich ein in die landesweit fast täglichen Proteste aufgebrachter Bürger gegen wachsende Armut, Korruption und Willkür der Obrigkeit, die regelmäßig von der Polizei niedergeschlagen werden.
Auch die Algerier sehnen sich nach Gerechtigkeit und wahrer Demokratie. Aber sie haben bereits in den 90er Jahren die Erfahrung machen müssen, dass sie gegen die Herrscherclique, die das Land fest im Griff hat, nichts ausrichten können. Die Islamisten hatten ihnen das Paradies auf Erden versprochen, wurden aber 1992 von den Militärs durch einen kalten Putsch um ihren überwältigenden Wahlsieg gebracht und wollten ihre Ziele daraufhin mit Gewalt durchsetzen. Allerdings war das auch im Interesse eines Teils der Machthaber. Generäle und deren Clans profitierten vom Chaos, indem sie sich bei der Umwandlung eines staatsmonopolistischen in ein privates Wirtschaftssystem die Löwenanteile sicherten. Wer angesichts täglicher Bombenanschläge und Attentate um sein nacktes Leben fürchten musste, lehnte sich nicht gegen massenhafte Entlassungen und Preissteigerungen auf. Auf der Strecke blieben jene, die ein demokratisches, modernes Algerien anstrebten. Sie wurden sowohl von den Islamisten als auch vom mafiösen System bekämpft.
In Algerien ist mittlerweile der »arabische Winter« eingezogen. Die Erkenntnis, dass sich das Land trotz 200 000 Toten lediglich im Kreis gedreht hat, lässt die Menschen frösteln. Nach wie vor profitieren dieselben Akteure von den unermesslichen Reichtümern des riesigen Landes. Bouteflika hat zwar Milliarden in die Infrastruktur und in Wohnungsbauprogramme gesteckt. Die Realisierung der Großprojekte wurde aber in die Hände ausländischer Unternehmen gelegt, die wie im Fall chinesischer Firmen ihre Arbeitskräfte mitbringen. Von einer nachhaltigen Ankurbelung der Wirtschaft kann keine Rede sein. Stattdessen treiben Korruption und Vetternwirtschaft ihre Blüten.
Viele Algerier haben die Hoffnung auf einen friedlichen Wandel verloren. Die Parteien haben ihr Vertrauen verspielt. Von den Parlamentsabgeordneten fühlen sich die Menschen längst nicht mehr vertreten. Was vor allem junge Leute von den üblichen Wahlmaskeraden halten, sagte ein junger Mann vor wenigen Wochen bei einer Debatte im Staatsfernsehen unter dem Applaus der Diskussionsteilnehmer: »Wir werden nicht wählen. Ich wende mich hier an die Verantwortlichen in diesem Land. Ihr steht uns bis hier. Ihr habt Euch alles unter den Nagel gerissen. Selbst die Sessel, an denen Ihr Euch festklammert, sind von Euch angewidert. Haut ab und nehmt die Sessel und gleich das halbe Land mit. Wir wollen Leute, die Gott fürchten und die etwas für das Wohl dieses Landes tun.«
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