Es war einmal ...
Seit 200 Jahren umstritten: Welchen Einfluss haben Märchen auf die seelische Entwicklung von Kindern?
Als die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im Jahr 1812 den ersten Band ihrer »Kinder- und Hausmärchen« veröffentlichten, hatten sie als Leser zunächst Erwachsene im Blick. Doch bald stellte sich heraus, dass auch Kinder von den Märchen angetan waren, die man aus diesem Grund in den folgenden Ausgaben »entschärfte«. Direkte sexuelle Anspielungen wurden dabei ebenso getilgt wie Verstöße gegen die bürgerliche Moral. Ein Beispiel: Überredete in »Hänsel und Gretel« anfangs die leibliche Mutter ihren Mann, beide Kinder im Wald auszusetzen, übernahm ab der 4. Auflage (1840) die Stiefmutter diesen herzlosen Part.
Was bei der Überarbeitung der Märchen jedoch häufig unangetastet blieb, war die in vielen Szenen geschilderte brutale Gewalt, die Kritiker veranlasste, den pädagogischen Wert der Geschichten generell in Frage zu stellen. Nach 1945 wurde von Seiten der Westalliierten sogar kurzzeitig die Vermutung geäußert, dass zwischen den Grausamkeiten in den Märchen und den Gräueln in den Konzentrationslagern ein Zusammenhang bestehe. Und noch im Jahr 1972 kamen die Teilnehmer der »Heidelberger Märchentage« mehrheitlich zu dem Schluss, dass die Grimmschen Märchen »Instrumente der bürgerlichen Repression« und deshalb aus den Kinderzimmern zu verbannen seien.
Dem widersprach der amerikanische Psychoanalytiker Bruno Bettelheim entschieden. In seinem 1976 veröffentlichten Buch »Kinder brauchen Märchen« heißt es, dass die klare Aufteilung der Märchenwelt in Gut und Böse und die harte Bestrafung der Übeltäter Kindern helfe, die »chaotischen Spannungen ihres Unbewussten« zu bewältigen und zu einer stabilen seelischen Ordnung zu finden. Denn Kinder projizierten ihre inneren Ängste auf die negativen Figuren und identifizierten sich mit deren positiven Gegenspielern, die im Märchen zuletzt die Sieger seien. Ähnlich argumentiert der Berliner Kommunikationspsychologe Frank Naumann: In den Märchen lernten Kinder, »mit Ängsten umzugehen«. Und sie erführen darin etwas über die Symbole unserer Kultur und die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft, über Armut und Reichtum, Geiz und Großzügigkeit, Neid und Liebe, Strafe und Belohnung.
Ob solche Lektionen allerdings mit den erwähnten Brutalitäten einhergehen müssen, ist unter Pädagogen seit jeher umstritten. Tatsächlich gibt es heute Versionen der Grimmschen Märchen, in denen auf grausame Szenen bewusst verzichtet wird. Andere Autoren berufen sich auch hier auf Bettelheim, der die, wie ich finde, fragwürdige Auffassung vertrat, dass Kinder selbst in ihrer Fantasie »gewalttätig, destruktiv und sogar sadistisch« seien, so dass die Grausamkeiten in den Märchen mit der unreifen kindlichen Persönlichkeitsentwicklung konform gingen. Und weiter heißt es bei Bettelheim: »Kein gesundes Kind glaubt, dass die in den Märchen erzählten Geschichten der Wirklichkeit entsprechen.« Das mag für ältere Kinder in den meisten Fällen zutreffen. Doch darin liegt nicht das Problem. Denn wie wir spätestens seit Sigmund Freud wissen, können Märchen ihre Leser und Hörer auch unbewusst beeinflussen.
So wird, um ein Beispiel zu geben, Kindern in vielen Märchen nahegelegt, stets demütig, angepasst und gehorsam zu sein. In der Geschichte von »Aschenputtel« etwa sagt die sterbende Mutter zu ihrer Tochter: »Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen«. Als der Vater nach dem Tod seiner Frau wieder heiratet, lässt sich seine Tochter von der Stiefmutter hinfort unentwegt entwürdigen, trägt schmutzige Kleider, macht im Haus die schwersten Arbeiten. Am Ende jedoch wird Aschenputtels Verhalten belohnt. Sie bekommt, wovon im Märchen viele junge Mädchen träumen, einen Königssohn zum Gemahl.
Ob »Aschenputtel«, »Schneewittchen« oder »Hänsel und Gretel«: Es fällt auf, dass das Böse in den Grimmschen Märchen gewöhnlich von hinterhältigen Stiefmüttern, Königinnen oder Hexen ausgeht, letztlich also von Frauen, die von der Kirche Jahrhunderte lang als sündhaft und verdorben dargestellt wurden. Zwar sind Märchen im Wesentlichen säkulare Erzählungen. Dennoch vermitteln sie häufig Klischees, die einen tradierten religiösen Hintergrund haben. Zuweilen komme sogar Gott als handelnde Person vor, sagt der Theologe Heinrich Dickerhoff: »Und dann wird's ganz schwierig.«
Ein Beispiel: In die 5. Auflage ihrer Märchen übernahmen die Brüder Grimm 1843 die Geschichte von den »ungleichen Kindern Evas«. Adam und Eva, so erfährt man dort, bekommen nach der Vertreibung aus dem Paradies zahlreiche Kinder, von denen einige schön, andere hässlich sind. Eines Tages erscheint Gott zu Besuch, und Eva zeigt lediglich ihre schönen Kinder vor, die von Gott daraufhin zu Adligen und Gelehrten erhoben werden. Dadurch ermutigt, lässt Eva auch ihre hässlichen und schmutzigen Kinder vortreten, für die Gott Berufe auswählt wie Bauer, Weber oder Hausknecht. »Eine fürchterliche Geschichte« meint Dickerhoff, »die sozusagen im Namen Gottes die Ungleichheit in der Welt stabilisiert und absegnet.«
Natürlich vermitteln Märchen auch andere Botschaften. Gefragt, welches wohl ihr Lieblingsmärchen sei, antworten Kinder häufig: »Die Sterntaler«. Darin geht ein armes Waisenkind in die Welt hinaus und verschenkt alles, was es besitzt. »Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Taler«, heißt es am Ende des Märchens, das die Brüder Grimm bereits 1812 unter dem Titel »Das arme Mädchen« in ihre Sammlung aufgenommen hatten, vielleicht um den Leser anzuregen, selbst großherzig und freigiebig zu sein. Zwar wird dieses Verhalten zuletzt reichlich honoriert. Doch davon weiß das Mädchen am Anfang nichts. Es handelt also, wenn man so will, aus reiner Menschlichkeit, die in zahlreichen Märchen als Handlungsmotiv durchschimmert.
Folgt man Bettelheim, dann sind Märchen für Kinder auch deshalb so bedeutsam, weil die darin stattfindenden »Ausflüge in die Irrationalität« zugleich den Weg zum »Realitätsprinzip« weisen. Man kann die Sache freilich auch andersherum betrachten. Da die Märchen gewöhnlich vor einem übernatürlichen Hintergrund spielen, festigen sie bei Kindern das magische Denken, statt dieses behutsam abzubauen. Denn um zu erkennen, dass es keine Hexen, Feen und Zauberer gibt, müssen Kinder einen kognitiven Reifeprozess durchlaufen, der nicht immer frei von Störungen ist, wie der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget nachgewiesen hat. Ob sonach bereits im frühen »Märchenalter« ein wichtiger Grundstein gelegt wird für die spätere Hinwendung eines Menschen zu religiösen oder esoterischen Heilslehren, ist eine brisante, aber bisher kaum untersuchte Frage. Ich möchte einer Antwort hier auch keineswegs vorgreifen, doch dass Märchen dazu beitragen können, den Glauben an übersinnliche Erscheinungen zu fördern, scheint mir naheliegend.
Andererseits bleibt festzuhalten, dass gerade Märchen hervorragend geeignet sind, die Fantasie und Kreativität von Kindern anzuregen. Außerdem erfahren diese, dass die »Welt da draußen« voller Konflikte ist, die man, um noch einmal auf »Hänsel und Gretel« zurückzukommen, durch Geduld und Geschick durchaus selbst lösen kann.
Um das pädagogische Potenzial von Märchen besser zu nutzen, war es früher üblich, dass Eltern (oder Großeltern) ihren Sprösslingen die zumeist packenden Geschichten vorlasen. Das geschieht heute erfahrungsgemäß immer seltener. Leider, muss man hinzufügen. Denn erstens entsteht durch das Vorlesen von Märchen eine enge emotionale Bindung zwischen einem Kind und seinen nächsten Bezugspersonen. Und zweitens kann das Kind jederzeit einhaken, wenn es etwas nicht verstanden hat oder sich vor den Geschehnissen im Märchen zu sehr ängstigt.
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