Die Menschen begehren auf, und das ist auch gut so
Heiner Geißler über die menschenverachtende Diktatur des Finanzkapitals, eine willfährige Politik und die Notwendigkeit vernunftgeleiteten Widerstands
nd: Herr Geißler, sind Sie ein Antikapitalist? Man könnte dies vermuten, nach der Lektüre Ihres neuen Buches, in dem so viel Wut auf den Kapitalismus steckt.
Geißler: Also das wäre eine unzureichende Beschreibung dessen, was ich bin und was ich denke. Ich identifiziere und definiere mich nicht durch das, wogegen ich bin. Es würde mir auch nicht genügen, zu sagen: Ich bin ein Deutscher. Natürlich bin ich ein Deutscher, aber ebenso ein Demokrat. Das ist mir sogar wichtiger. Und deswegen steht mir der polnische Demokrat näher als ein rechtsradikaler Rowdy aus Kyritz an der Knatter.
Sie klagen drei Absolutismen an: den ökonomischen, islamischen und klerikalen Absolutismus ...
Und nicht zu vergessen: die autoritäre Politik in Demokratien, für die sich bei uns der Begriff Basta-Politik eingebürgert hat.
Das ist ein weites Feld.
Alle Absolutismen haben eines gemeinsam: Sie scheuen Transparenz und Öffentlichkeit, verschleiern, verdunkeln, täuschen, verblenden und verdummen die Menschen. Deshalb sage ich: Wir brauchen eine neue Aufklärung. Das vor 250 Jahren in Europa und Amerika begonnene Projekt blieb unvollendet, in großen Teilen der Welt fand es überhaupt nicht statt. Die Aufklärer damals stritten gegen den Adel und die Kirche, gegen die Vorstellung, die ungleiche Verteilung von Macht und Reichtum sei gottgegeben, ebenso die Unterwerfung der Frau unter den Mann. Das Urteil der Vernunft sollte alles beseitigen, was dem Fortschritt entgegenstand: Intoleranz, Fundamentalismus, Aberglauben, Irrationalität, staatlichen und religiösen Absolutismus.
Mittlerweile legen neue Dämonen die Menschen in Ketten. Ein Fundamentalismus größeren Kalibers bedroht Milliarden Menschen auf der Erde: die absolutistische Ökonomie.
Ökonomischer Absolutismus, oder das Diktat der Ökonomie, ist eine uralte Geißel. Sie gibt es seit Beginn der geschriebenen Menschheitsgeschichte.
Nein. Der Begriff Ökonomie kommt vom griechischen »oíkos«, und bedeutet »das Haus«. Ökonomie war ursprünglich darauf bedacht und auch so praktiziert worden, dass die Bedürfnisse aller Bewohner des Hauses befriedigt werden.
Dieses Haus war damals noch die kleine, überschaubare Polis ...
... und ist dann auf größere Gemeinschaften erweitert worden. Natürlich kam es über die Jahrhunderte immer wieder zu Verzerrungen. Die Ökonomie wurde von einigen Wenigen, den Mächtigen, dem Adel und zum Teil auch der Kirche, usurpiert und zu Ungunsten der Menschen missbraucht. Im Kommunismus war es letztlich genauso. Heute geschieht dies durch diejenigen, die das Geld beherrschen. Und das hat etwas mit der Unordnung auf den internationalen Finanzmärkten zu tun.
Und die Politik lässt das zu.
Ja. Aristoteles sagt, Politik sei nichts anderes als das Bemühen, das geordnete Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Die Politik hat sich selbst entmachtet, sich zum Erfüllungsgehilfen des Finanzkapitals gemacht. In ihrem neoliberalen Privatisierungs- und Deregulierungswahn hat sie die Kontrolle über die Finanzindustrie aus der Hand gegeben, den Spekulanten und dem Großkapital einen roten Teppich ausgerollt. Für die Sorgen und Nöte der Menschen haben viele kein Verständnis mehr, von Empathie ganz zu schweigen.
Weil sie deren Nöte nicht kennen oder diese ihnen egal sind?
Die Mitglieder von Regierungskommissionen, Beamte, Professoren, Verbandsvertreter, wie z. B. in der Hartz-Kommission, entscheiden über das Schicksal von Arbeitslosen und waren selbst nie arbeitslos oder in prekärer Lage. Solon, der große griechische Gesetzgeber, hat auf die Frage, wie Unrecht zu verhindern wäre, geantwortet: »Indem sich die Nichtbetroffenen ebenso betroffen fühlen wie die Geschädigten.«
Man könnte auch Kants Kategorischen Imperativ zitieren: »Handle nur nach der Maxime, von der du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Ergo jeden betrifft.
Ich spreche von einer Vernunft, die sich ethische Maßstäbe setzt, eine Vernunft des Herzens. Die Achtung der Menschenwürde muss Grundlage allen politischen Handelns sein.
Das größte Problem heute ist das Chaos in der Weltwirtschaft. Es gibt keine Gesetze, keine Regeln, keine sozialen Übereinkünfte mehr. Es setzt sich das Recht des Stärkeren durch. Vor 60 Jahren war dies noch anders.
Die soziale Marktwirtschaft ist die erfolgreichste Philosophie der Wirtschaftsgeschichte. Sie hat die alte soziale Frage gelöst, wegen der Marx und Engels das »Kommunistische Manifest« verfassten. Heute haben wir in weiten Teilen der Erde, zum Teil auch in Deutschland, eine ähnliche Situation, wie sie von diesen beiden ökonomischen Aufklärern beschrieben wurde. Die alte Arbeiterfrage ist mit Zeit- und Leiharbeit, Lohndumping, Ein-Euro- und Minijobs sowie befristeten Arbeitsverträgen aus der Gruft des Frühkapitalismus auferstanden.
Die soziale Marktwirtschaft kam aber nicht aus dem Nichts, entfaltete sich erst durch den Wettstreit der Systeme.
Sie meinen als Antwort auf den Kommunismus?
Ja. Und mit dem Kollaps des Sowjetimperiums begann der Abbau der sozialen Marktwirtschaft.
Es wäre falsch, die soziale Marktwirtschaft lediglich als ein Gegenprodukt zum Kommunismus zu sehen. Sie war eine echte Innovation, die gedanklich schon während des Krieges durch das Bündnis zwischen dem Ordoliberalismus der Freiburger Schule, der katholischen Soziallehre und evangelischen Sozialethik entworfen wurden.
Richtig ist, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Gegner der sozialen Marktwirtschaft sie beseitigen wollten. Dabei haben vor allem Milton Friedman und seine »Chicago Boys« eine üble Rolle gespielt. Sie haben den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten als Triumph des Kapitalismus angesehen. Das war ein Denkfehler. Dieser Irrglaube hat 1990/91 aber dazu geführt, dass wirtschaftspolitisch falsche Entscheidungen getroffen wurden.
Zum Beispiel mit der Deindustrialisierung Ostdeutschlands?
Das war sicher ein ganz schwerer Fehler. Das war reiner Neoliberalismus. Die Menschen in der DDR wussten um die wirtschaftlichen Erfolge der Bundesrepublik. Sie hofften nun, dass es bei ihnen ebenfalls ökonomisch aufwärts geht. Doch sie erfuhren nicht die soziale Marktwirtschaft, sondern blickten in die hässliche Fratze des Kapitalismus - in Gestalt der Treuhand, die jetzt die neoliberalen Mantras realisierte: Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Filetierung.
Man hat keine Industriepolitik in Ostdeutschland betrieben. Das haben die Liberalen verhindert. Es wurde das Gegenteil von dem gemacht, was Ludwig Erhard nach den Demontagen im Ruhrgebiet durch die Franzosen und Engländer tat. Als Bundeswirtschaftsminister führte er eine Investitionsabgabe ein, die alle Unternehmen bezahlen mussten. Und mit diesem Geld baute er das Ruhrgebiet wieder auf, innovativ und modern. Das ist mit ein Grund dafür, warum die deutsche Wirtschaft später den anderen europäischen Ländern gegenüber erfolgreicher war.
Das ist ein Beispiel aus längst vergangenen Tagen.
Es gibt andere Beispiele. Auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg hat man über lange Jahre Schnürsenkel, Unterhosen und Büstenhalter, Streichhölzer und Kuckucksuhren hergestellt. Eines Tages stellte sich heraus, die Schweden produzieren Streichhölzer und die Jugoslawen Schnürsenkel billiger, in Hongkong waren es die Kuckucksuhren. Die Betriebe auf der Schwäbischen Alb gingen bankrott. Jetzt kann der Staat sagen: Ich mache nichts, das ist halt der Markt, der ist, wie er ist. Oder der Staat stellt Geld bereit, um innovative Unternehmen zu gründen. Das geschah in Baden-Württemberg, die kleingewerblichen Betriebe wurden durch zukunftsträchtige ersetzt.
Cottbus und Eisenhüttenstadt oder andere ostdeutsche Industrieregionen hat man nach 1990 nicht in eine kluge Investitionspolitik gebettet. Stattdessen zerstörte man die industrielle Landschaft, mit wenigen Ausnahmen, so in Jena dank Lothar Späth oder in Sachsen durch Kurt Biedenkopf. Die negativen Auswirkungen auf die Menschen hängen zusammen mit falschem Denken.
Vielleicht war Ostdeutschland explizit als Experimentierfeld für das neoliberale Modell auserkoren, das man dann auch Westdeutschland überstülpte, mit ähnlichen Folgen: Massenentlassungen, Lohndumping etc. Die in Hungerstreik getretenen Kalikumpel von Bischofferode erfuhren indes keine Solidarität von den Ruhrkumpel, die wenig später ein gleiches Schicksal erlitten.
Solidarität hätte den Leuten in Bischofferode auch nicht geholfen.
Ich erwähne dies, weil Sie in Ihrem Buch betonen: »Solidarität ist keine altmodische Gefühlsduselei, platonische Angelegenheit oder Gesinnungsakrobatik, sondern die menschliche Pflicht, denen beizustehen, die in Not sind.«
Ja, aber man kann nicht jedes Unternehmen retten. Es gibt ökonomische Situationen, wo eine Firma Pleite gehen muss - entweder weil die Nachfrage nicht da ist oder die Qualität der Produkte schlecht ist und sie darum nicht gekauft werden. Viel schlimmer ist: Der heutige Kapitalismus macht auch Unternehmen kaputt, die gut wirtschaften. Das kapitalistische Interesse besteht nicht mehr darin, dass die Unternehmen Erfolg haben, sondern nur, dass Gewinne erwirtschaftet werden, die man dann aber nicht investiert, sondern einfach abzieht. Und das ist immer dann der Fall, wenn die Unternehmen Investmentfonds mit Sitz in Chicago oder in London gehören. Sie sind nur an der quartalsmäßigen Rendite interessiert. So ist das zum Beispiel mit Nokia passiert. Und es gibt in jüngster Zeit eine Reihe weiterer Fälle.
Zum Beispiel Opel.
Opel wird von General Motors in Detroit gesteuert. Oft ist es auch falsches Management, das zu fatalen Entwicklungen führt.
Karstadt und Schlecker?
Richtig. Mir war schon immer klar, dass Schlecker eines Tages scheitern muss. Das sah man schon, wenn man die Läden betrat: an der Ausstattung und den Mienen der Menschen. Ein Unternehmen besteht nicht nur aus dem Kapital, das in ihm steckt, sondern aus den Menschen, die für das Unternehmen arbeiten.
Verantwortungsbewusstes Unternehmertum ist also gefragt?
Im Grundgesetz heißt es, dass Eigentum verpflichtet. Der Eigentümer kann mit einem Unternehmen nicht machen, was er will.
Er darf es nicht wie eine Zitrone auspressen und ausgelutscht wegschmeißen?
Richtig. Die Hedgefonds - nicht alle, aber sehr viele - pressen die Unternehmen aus, schöpfen die Gewinne ab und verkaufen dann das Unternehmen an den nächsten Hedgefonds. Dann geht es noch mal gut, weil die Arbeitnehmer geringere Löhne akzeptieren und dadurch wieder Gewinne erwirtschaftet werden können, die jedoch wieder abgeschöpft werden und dann ist der Betrieb Pleite. Neulich sind im Koblenzer Raum wieder zwei Betriebe auf diese Weise kaputtgemacht worden. Das ist der Kapitalismus.
Und darum gehört er abgeschafft. Oder was sonst?
Ja, er muss ersetzt werden durch eine internationale soziale Marktwirtschaft. Die Unordnung, die das Finanzkapital verursacht hat, muss beseitigt werden. Es gibt Geld wie Heu auf der Erde. Unsere ökologischen Probleme, die Armut von drei Milliarden Menschen, Trinkwassernotstand, Flüchtlingsdramen - alle diese Probleme könnten wir, was auch das Millenniumsziel der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2015 ist, in den Griff bekommen, wenn die immensen Geldmengen, die vorhanden sind, nicht in falschen Händen wären. 72 Millionen Kinder weltweit können keine Schule besuchen, 800 Millionen Menschen sind Analphabeten, davon zwei Drittel Frauen, 25 Millionen HIV-Infizierte in Afrika sind ohne medizinische Versorgung.
Die heutigen ökonomischen, ökologischen, sozialen und rechtlichen Missstände sind um ein Vielfaches größer, als jene zur Zeit der Aufklärer. Wir sind Zeugen einer globalen Menschenrechtskrise: Millionen leiden unter ungerechten und unwürdigen Lebensverhältnissen, die das Ergebnis einer kriminellen internationalen Arbeitsteilung sind. Weil wir auf der Weltebene keine Ordnung haben.
Wer soll die Ordnung schaffen?
Das muss die Politik machen. Die G-20-Staaten haben in Edinburgh eine Reform der Finanzmärkte beschlossen. Die Realisierung ist jedoch bisher am Widerstand der Engländer und der Mehrheit im amerikanischen Repräsentantenhaus gescheitert. Und natürlich an China, zum Teil auch an Russland. In Russland haben wir zur Zeit fast die schlimmste Form kapitalistischer Wirtschaft. Die Chinesen erringen ihre Wettbewerbsvorteile auf dem Weltmarkt durch eine gnadenlose Ausbeutung der Arbeitnehmer.
Auch in Deutschland ist sie mittlerweile gnadenlos. Wenn Menschen von ihrer Arbeit nicht leben können, muss man die Verhältnisse barbarisch nennen.
Das ist richtig, aber das ist die Folge einer falschen politischen Entscheidung - der Agenda 2010. Rot-Grün hat damals beschlossen, Minijobs zu ermöglichen. Wir haben keine Zunahme an Vollzeitarbeitsplätzen, die sozialversicherungspflichtig sind, sondern ungefähr sechs Millionen Minijobs, von denen die Menschen vielfach nicht leben können. Vor allem Frauen sind davon betroffen.
Und Politiker belügen uns und sich, wenn sie auf gesunkene Arbeitslosenzahlen weisen.
Deutschland steht schon besser da als die anderen Länder, aber das hat einen einfachen Grund.
Die statistische Lüge.
Die Arbeitslosenstatistik ist schon immer fehlerhaft gewesen. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse wie die 400-Euro-Jobs werden nicht dazu gezählt, obwohl sie natürlich außerordentlich negative Auswirkungen haben, vor allem für die Altersrente. Deswegen muss das möglichst rasch revidiert werden.
Dass wir besser dastehen als andere Länder ist nicht die Folge der angeblichen Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder, wie immer wieder behauptet wird, sondern hat einen ganz einfachen Grund - nämlich die Realisierung einer gesetzlichen Regelung, die es in keinem anderen europäischen Land gibt außer in Deutschland. Das war eine Innovation der CDU, die aber vom SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz in der Großen Koalition durchgesetzt wurde: die Übertragung des Gedankens der Winterbauförderung auf die gesamte Wirtschaft.
Damit die Betriebe im Baugewerbe überwintern können, bis zum nächsten Frühjahr, wenn die Böden wieder bebaubar sind, bekamen sie staatliche Hilfe. Diesen Gedanken hat man durch das sogenannte Kurzarbeitergeld auf die gesamte Wirtschaft übertragen. Und dies hat die deutsche Wirtschaft in die Lage versetzt, die Krise zu überstehen. Es sind ungefähr fünf Milliarden Euro Kurzarbeitergeld ausbezahlt worden. Arbeitnehmer mussten nicht entlassen werden, sondern haben mit einem geringeren Lohn weiter arbeiten können.
Die Unternehmer weigern sich indes jetzt, wo das Gröbste überstanden zu sein scheint, den Arbeitern faire Gehälter zu zahlen?
Das ist wahr. Ich bin aber im Moment bei der Erklärung, warum wir in Deutschland besser dastehen als andere Länder. Das ist die Folge einer vernünftigen sozialen, arbeitsmarktpolitischen Regelung - typischer Fall einer sozialen Marktwirtschaft. Das ist etwas Vorbildliches, um das uns andere Länder beneiden.
Noch ist die soziale Marktwirtschaft in Deutschland nicht ganz kaputt, sie ist in der realen Wirtschaft noch in der Substanz erhalten. Das hängt auch mit der Stärke der Gewerkschaften zusammen, die allerdings auch schwere Fehler gemacht haben.
Und das wären...?
Eine Gewerkschaft ist nicht nur dazu da, den Arbeitnehmern Arbeitsplatzsicherheiten zu ermöglichen, sondern eben auch Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt. Das heißt Lohnerhöhung. Jede Gewerkschaft hat als vorrangiges Ziel Lohnerhöhungen durchzusetzen, wenn die Unternehmen Gewinne machen. Die Arbeitnehmer müssen daran beteiligt werden. Im letzten Jahrzehnt haben die Gewerkschaften dieses Ziel aufgegeben und anstelle der Lohnerhöhungen in den Tarifverhandlungen Arbeitsplatzsicherungsklauseln ausgehandelt. Mit der Folge, dass die Arbeitsplätze bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten trotzdem abgebaut worden sind. Mit erheblichen volkswirtschaftlichen Konsequenzen, denn die Binnenkonjunktur ist bei uns schwach. Das hängt damit zusammen, dass in den letzten zehn Jahren die Leute eben netto im Grunde genommen nicht mehr verdient haben. Wir überleben nur durch den Export.
Kehren wir zu den Hedgefonds und Spekulanten zurück: Sie sind wieder dicke da, obwohl wir noch bis zu den Knien oder Knöcheln in der Krise stecken. Oder haben wir sie überstanden?
Nein, wir sind natürlich noch nicht aus der Krise heraus, sondern laufen Gefahr, dass eine neue Krise über uns kommt, weil viele, die Verantwortung für die letzte tragen, schon wieder weitermachen als wäre überhaupt nichts passiert. Private-Equity-Haie wetten und profitieren wie eh und je. Die Investmentbanker greifen sich jetzt die Rohstoffe der Lebensmittelbranche.
Nahrungsmittel als Spekulationsobjekte ist das Perverseste, was man sich denken kann.
So ist es. Sie kaufen Reis, Mais, Getreide auf und verhindern, dass diese Lebensmittelrohstoffe auf den Markt kommen. Ab einem bestimmten Punkt werden sie dann freigegeben, aber natürlich zu einem höheren Preis verkauft. Inzwischen sind Zehntausende Kinder in den Favelas, den Armenvierteln in Lateinamerika, verhungert, weil die Eltern den Mais nicht mehr bezahlen konnten. Alle dreieinhalb Sekunden stirbt ein Mensch an Unterernährung. Der Kapitalismus geht über Leichen.
Und verzweifelte Hungerrevolten scheren ihn nicht.
Pervers ist, dass diese Investmentbanken oder verwandte Institute, die ja wissen, dass der Preis auf Lebensmittel irgendwann mal wieder fällt, darauf nun wiederum Wertpapier-Wetten abschließen.
Was kann man dagegen tun?
Verbieten.
Wie stehen Sie zur Finanztransaktionssteuer?
Die internationale Finanztransaktionssteuer wäre dringend notwendig, vor allem, weil wir das Geld für Investitionen brauchen, für die Wissenschaft, für die Bildung und für das Gesundheitswesen.
Inhalt der Finanzmarktordnung ist vor allem eine Standardisierung der Finanzprodukte. Die Banken dürfen nicht jedes Finanzprodukt auf den Markt werfen, Finanzprodukte müssen vom Staat genehmigt werden. Das ist ein ganz wichtiger Inhalt und deswegen ist die ganze Finanzwelt wie verrückt dagegen.
Weil das ihr Jungbrunnen ist.
Das Finanzkapital geht hohe Risiken ein, um hohe Gewinne zu erzielen. Wenn es gut geht, werden die Spekulanten reich, wenn es daneben geht, müssen die Verluste vom Steuerzahler aufgefangen werden. Zur Finanzmarktreform gehört also auch, Banken ab einer bestimmten Größe zu zerschlagen, zu entflechten. »To big to fail«, sagen die Amerikaner. Viele Banken sind zu groß, um Pleite gehen zu können, weil sie sonst alles mit in den Abgrund reißen.
Und zwar ganze Volkswirtschaften. Wäre es nicht das Einfachste, man schließt alle Börsen?
Ich glaube nicht, dass es notwendig ist, die Möglichkeit von Aktiengesellschaften zu beseitigen, was ja auf die Schließung der Börsen hinauslaufen würde.
Dann gibt es keinen Kapitalismus mehr.
Dann würden wir wieder in ein Gegenteil zurückfallen, das wir auch nicht wünschen können. Der Markt ist nicht zu ersetzen. Das haben die Erfahrungen im Sozialismus gezeigt: Ein Gemeinwesen, das den Markt abschafft, geht selber Pleite. Der Markt ist völlig in Ordnung. Er muss nur sozial und ökologisch ausgestaltet sein.
Und nicht einer »unsichtbaren Hand« überlassen werden.
Der Glaube an die Selbstregulierungskraft der Märkte ist der große Fehler der »Chicago Boys« von Milton Friedman und auch Friedrich August von Hayek gewesen. Diese Wahnidee hatte Adam Smith 1776 in die Welt gesetzt. An die Stelle des regulativen Ideals des Gemeinwohls traten die Idee des Wettbewerbs und die Ideologie des Wachstums um jeden Preis.
Wir brauchen also auch ein bisschen Planwirtschaft?
Der Begriff Planwirtschaft ist verbraucht. Aber natürlich ist schon ein Tarifvertrag ein Stück Planwirtschaft. Man kann auch von Ordnungspolitik sprechen. Es geht nicht ohne die ordnende Hand des Staates. Er muss Regeln aufstellen, Normen festlegen. Ein geordneter Wettbewerb ist Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft.
Die Börsen zu schließen wäre sicher nicht der richtige Weg. Denn was würden die Leute, die Geld haben, mit dem Geld anfangen? Das hätte verheerende Konsequenzen. Wir bräuchten eher eine breite Streuung des Aktienbesitzes. Arbeitnehmer sollten Miteigentümer der Unternehmen werden. Das ist natürlich schwierig, weil die Risiken unterschiedlich verteilt sind bei Arbeitnehmern und professionellen Aktionären.
Ihr Buchtitel »Sapere aude« meint: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Oder: Wage es, vernünftig zu sein!
Noch nie stand die Menschheit so existenziell vor der Gefahr des eigenen Untergangs wie heute. Doch es gibt Hoffnung. Die Menschen schlucken nicht mehr jede Zumutung, sie protestieren, begehren auf, lassen sich nicht mehr von der Politik, von medialen Hofberichterstattern des Finanzkapitals oder klerikalen Fundamentalisten für dumm verkaufen. Sie wagen es, sich Ihres eigenen Verstandes zu bedienen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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