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Welthelfer des eigenen Ich

Dem Essayisten Friedrich Dieckmann zum 75. Geburtstag

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Im Sommer 1965, diesem bestvergessenen Schicksalsjahr der DDR, stand ein 28-jähriger Schriftsteller, der zuvor in Leipzig Physik und dann Philosophie studiert hatte, in Bayreuth vorm Festspielhaus auf dem grünen Hügel. Er war im Auftrag der Zeitschrift »Sinn und Form« gekommen, etwas über Wieland Wagners Inszenierung (seine letzte, wie sich erweisen sollte) des »Tannhäuser« zu schreiben - unter Mitwirkung nicht weniger ostdeutscher Musiker.

Friedrich Dieckmann war optimistisch, seine eigene wie auch die Zukunft der DDR betreffend. Jenes die Utopie in sich bergende Bibelwort, das sein Leipziger Lehrer Ernst Bloch zum Zentralmotiv seines Philosophierens erhoben hatte, stand in aller Sinnfälligkeit vor ihm: »Wir haben keine bleibende Statt, aber die zukünftige suchen wir.« Und dann traf er hier ganz unerwartet den Denker des »Prinzip Hoffnung«, der sich seit seinem quasi erzwungenen Weggang aus Leipzig in einen Apokalyptiker, die Zukunft der DDR betreffend, verwandelt hatte. Der Lehrer und sein Schüler: tief pessimistisch der eine, voller Optimismus der andere.

Kurze Zeit später, im Dezember 1965, trat mit dem 11. Plenum des ZK der SED, jenem berüchtigten »Kahlschlag-Plenum«, das ein, was Bloch prognostiziert hatte: ein neuer Dogmatismus. Warum er dieses Jahr 1965 nicht mit in sein Buch »Deutsche Daten oder Der lange Weg zum Frieden« mit aufgenommen habe (in dem die Jahreszahlen 1945, 1949, 1953, 1961 und 1989 vorkommen), wollte ich von Dieckmann wissen. »Weil ich mich nicht ins Bockshorn jagen lassen wollte«, antwortete er. Und tatsächlich, überblickt man den Reichtum seines Schreibens im letzten halben Jahrhundert, ist es von einem fast klassischen Optimismus geprägt, in dem sich alle zeitbedingt-dramatischen Widersprüche wieder in ihrer - allerdings hochkomplexen - Einheit wiederfinden.

Das beginnt bereits in jenem Jahr 1965, da Dieckmann nicht nur seinen »Tannhäuser«-Text für »Sinn und Form« schrieb, sondern im Heft 3/4 auch über »Die Tragödie des Coriolan« mit der Unterzeile »Shakespeare im Brecht-Theater« nachdachte. Ein dreißigseitiges Modell jenes »eingreifenden Denkens«, das er fortan - und über das Ende der DDR hinaus - zu kultivieren begann. Es ist ein frappierend kritischer Befund, das Brecht-Erbe am Berliner Ensemble betreffend: »Es bedürfte einer neuen Gravitation, eines Schusses neuen Pioniergeists, um der Truppe wieder innere Bindung zu geben, einer selbstverständlichen Autorität, die das Erbe geschmeidig halten, das Repräsentative fruchtbar zu machen verstünde ... Nichts Lebendiges ist ersetzlich; aber es kommt darauf an, immer neue Unersetzlichkeiten zu schaffen.«

Das ist wahrlich groß gedacht von einem 28-Jährigen in diesem Jahr 1965, das so kleinkariert enden sollte. Es ist Dieckmanns große Leistung, dass er den Anspruch der Vernunft als eine Wirklichkeit des Geistes jederzeit zu behaupten wusste - und weiß!

Zwei neue Bücher erscheinen in diesen Tagen von ihm, das eine aus dem Nachlass seines Freundes Adolf Dresen gibt er im Verlag »Theater der Zeit« heraus, begleitet von einem die Entstehung dieses wichtigen Textes erhellenden Essays: »Der Einzelne und das Ganze: Zur Kritik der Marxschen Ökonomie«. Das andere erscheint im Sandstein Verlag und heißt »Pöppelmann oder Die Gehäuse der Lust«. Hier verbindet sich für Dieckmann, ganz im Sinne Goethes, Liebhaberei mit Expertentum auf universal gebildete Weise.

Und immer ist da diese Genauigkeit im Bereich der ungenauen Dinge, des Lebens also. Sie zeichnet den Essayisten von hohem Rang aus, jenes immer wieder neu zu formulierende (und zu bejahende!) Zwittertum aus Wissenschaft und Kunst als lebenslanges Provisorium, das fortgesetzt zu kultivierende Feld des Übergangs zwischen Ich und Welt, wie es der junge Georg Lukács einmal charakterisierte: »Der Essay ist ein Gericht, doch nicht das Urteil ist das Wesentliche und Wertentscheidende an ihm (wie im System), sondern der Prozess des Richtens.«

In der Vervollkommnung des Fragments als Welthelfer des eigenen Ich vergewissert sich Friedrich Dieckmann als solch ein Essayist par excellence unaufhörlich seiner ungebrochenen Modernität. Und dies immer angesichts einer Vielzahl von Scherben, in die das Gefäß der klassischen Einheit des Guten, Wahren und Schönen längst zersplittert ist - doch als Bild steht es ihm immer als kostbar Unverlierbares vor Augen, trotz, oder gerade wegen seiner Unerreichbarkeit. Da ist viel persönlich gewordenes Weltwissen im Spiel, ein von manch Ahnungslosem gerade bei einem in der DDR Aufgewachsenen kaum vermuteter Erfahrungsraum von Bildung, der sich jedoch nie selbst genügt - und eben darin seinen bürgerlichen Rahmen wieder sprengt.

Mein Lieblingsbuch ist »Richard Wagner in Venedig« - eine Collage, die Wagner beim Wort nimmt, wenn er in dieser Stadt nach einem bisher ungehörten musikalischem Ausdruck sucht - und dabei gleichsam als Regisseur dieser Szenerie Brücken baut zwischen Geist und Sinnen, zwischen aussprechbarer Hintergrundinformation, nur zeigbarer Kontur und imaginärem Klang. Aus diesem Zugleich von Erkenntnis und Poesie lebt »Wagner in Venedig«, wo es über »Tristan und Isolde« heißt, das »Werk leidenschaftlicher Weltflucht« komme in dieser Stadt zur Welt, die eben mehr ist als nur eine Stadt: »Katakomben des Schreckens auf dem Grunde der Schönheit.«

Aber Dieckmann belässt es eben nicht beim Benennen der »tönenden Höhle«, in der der »Trank narkotischer Entrückung« bereitet wird - er erzählt nicht nur Wagners Lebens- und Werkgeschichte, er verortet sie zugleich in der Geschichtszeit jener Welthistorie, die auch bei Wagner mitkomponiert ist. Trotz aller Autonomie des Kunstwerks, diese sogar bestätigend, wenn ein neuer Grundton hindurchklingt: »Verzweiflung am Scheitern der gesellschaftlichen Revolution gebiert hier eine Revolution der Musik.«

Bei Friedrich Dieckmann darf man eine naturhafte Betrachtung der Kultur bewundern, die ein Erbteil jenes Geistes Ernst Blochs ist, den er aus Leipziger Studienzeiten als etwas mitgenommen hat, was immer noch vor uns liegt. Diese »Aktualität des Unzeitgemäßen« ist der Utopieraum, der sich in allen Büchern Dieckmanns öffnet. Dialektik, die die Grenzen des Begriffs überwindet!

So tragen diese wundervoll präzisen Metamorphosen des lebendigen Geistes dann Titel, bei denen man mutmaßen möchte, der Autor verstehe sie als Zaubersprüche: »Hilfsmittel wider die alternde Zeit«, »Vom Einbringen. Vaterländische Beiträge«, »Glockenläuten und offene Fragen«, »Die Geschichte Don Giovannis. Werdegang eines erotischen Anarchisten«, »Der Irrtum des Verschwindens«, »Gespaltene Welt und liebendes Paar. Oper als Gleichnis«, »›Freiheit ist nur in dem Reich der Träume.‹ Schillers Jahrhundertwende«, »Diesen Kuss der ganzen Welt. Der junge Mann Schiller«, »Geglückte Balance. Auf Goethe blickend«.

Friedrich Dieckmann ist seinem Wesen nach ein musikalischer Denker, der Flügel im Wohnzimmer gibt Anlass zur Vermutung, hier werde mit Hausmusik Ernst gemacht - die wechselnden, aber nie verschwindenden Bücherstapel auf dem herabgeklappten Deckel jedoch lassen ahnen, dass Muße fortgesetzt erhofft wird, aber die Musen doch immer nur dem angestrengt Arbeitenden beistehen. Ja, Dieckmann ist der einzige Autor von Rang, den ich kenne, der Goethe und Schiller gleichermaßen ein bewundernder Leser ist, der nicht einen auf Kosten des anderen zu profilieren versucht - und über beide gerade in der Aufeinanderbezogenheit erkenntnishelle Bücher schrieb. Das ist angewandte Vornehmheit!

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