Das Gespenst, das ziemlich real ist
In Göttingen wurde vermieden, die Polarisierung auf die Spitze zu treiben
Ein wenig zieren sich Katja Kipping und Katharina Schwabedissen hinter den Kulissen wohl zu diesem Zeitpunkt noch, die mit diesem dritten Weg zweier Frauen an der Parteispitze das Angebot zu einem neuen, kulturvollen Politikstil gemacht hatten. Von den einen mit interessierter Skepsis, von den anderen als Anmaßung betrachtet, ist er für viele immerhin eine Alternative zum latenten Machtkampf zwischen den Interessengruppen, deren labiles Gleichgewicht bisher in einer quotierten Parteispitze ausbalanciert wurde. Tatsächlich wird an diesem Sonnabend mit diesem Gleichgewicht gebrochen. Ausgleich ist nicht länger das Ziel, sondern ein Sieg der einen über die andere Seite. Ein Duo Kipping und Schwabedissen ist dabei nur im Weg.
Kapitulation erklärt
Am Abend treten beide vor die Delegierten, um zu begründen, dass sie nicht mehr als Doppelspitze antreten. Es ist eine Kapitulationserklärung. Belohnt von dem Versprechen, Kipping bei der Wahl zu unterstützen. Das klappt, die bisherige Parteivizevorsitzende wird im Duell gegen Dora Heyenn am Abend gewählt. Schwabedissen, die nun Stellvertreterin werden will, scheitert. Es sei »signalisiert« worden, dass eine Richtungsentscheidung gewollt ist, begründet Kipping den Kurswechsel. Ohne Hinweis auf den Signalgeber. Doch der ist nicht um Anonymität bemüht. »Völker, hört die Signale!«, stimmen die Sieger vom Lafontaine-Flügel die »Internationale« an, als sie die Gegner niedergerungen haben. Aber auch: »Ihr habt den Krieg verloren!«
Die Gegenseite, das sind Dietmar Bartsch und seine Anhänger auf der sogenannten Reformerseite. Auch sie haben hoch gepokert. Und sie haben verloren. Sie haben mit der Kandidatur Bartschs Oskar Lafontaines Wiederkehr an die Parteispitze verhindert, die für große Teile der Partei die Aussicht auf neue glorreiche Erfolge verhieß. Nachdem dieser eine Kampfkandidatur unter seiner Würde befand und sich zurückzog, verlangte der Groll über die Kandidatur Bartschs unerbittlich nach Genugtuung.
Davon, aber auch vom kalten Entsetzen der Gegenseite ist die Halle übervoll, als sie sich nach der Entscheidung über den zweiten Vorsitzenden leert. Ein Teil der Delegierten hat den Saal verlassen, viele kehren nicht mehr zurück. 297 gegen 251 Stimmen für den baden-württembergischen Landesvorsitzenden Bernd Riexinger, der erst Tage zuvor dem Drängen gefolgt ist, gegen Bartsch anzutreten. 53 gegen 45 Prozent der Delegierten. Nichts kann die Spaltung deutlicher machen. Dora Heyenn war als Hamburgerin das Doppelspitzenpendant zu Bartsch. Zwei Ostdeutsche wollen aber nach der Entscheidung für Katja Kipping selbst die westdeutschen Delegierten nicht wählen, die der Hader zwischen Reformern und Radikalen sonst nicht kümmert.
Sahra Wagenknecht, nach Oskar Lafontaine Hoffnungsträgerin für viele im Saal, hat zuvor in einer persönlichen Erklärung erklärt, nicht in einer Kampfkandidatur gegen Bartsch antreten zu wollen. Sie wolle die »Polarisierung nicht auf die Spitze treiben«. Sie wird später als Stellvertreterin gewählt - neben Caren Lay, Jan van Aken und Axel Troost.
Polarisierung an der Spitze verhindert das nicht. Im virtuellen Machtzentrum der Partei nämlich. Öffentlich deutlich werden Differenzen zwischen Gregor Gysi und Oskar Lafontaine. So deutlich, dass niemand es mehr übersehen kann. Gregor Gysi beschreibt das Bild zweier Parteien - einer »Volkspartei im Osten« und einer »Interessenpartei im Westen«. Das sei gut zu vereinbaren, meint Gysi: »Warum kann uns das nicht bereichern, warum geht es nicht zusammen? Ich will nicht begreifen, dass es uns spaltet.«
Doch es spaltet. Bestimmte Kritik aus dem Westen, etwa an Regierungsbeteiligungen im Osten, erinnere ihn an »die westliche Arroganz bei der Vereinigung unseres Landes«, so Gysi, der es ablehnt, sich erneut von Bartsch zu distanzieren, und Vorwürfe einer Anbiederung im Osten an die SPD scharf zurückweist. Den Zustand der von ihm geführten Bundestagsfraktion schildert er als »pathologisch«. Dort herrsche »auch Hass«. Entscheidungen würden nicht mehr der Sache nach getroffen, sondern abhängig von der »Person, die eine bestimmte Meinung vertritt oder einen bestimmten Antrag stellt«.
Lasst dieses Wort weg
Während Delegierte aus dem Osten bei Gysis Rede Tränen in den Augen haben, versagen ihm andere den Beifall. Auch Oskar Lafontaine will sich nicht auf Fragen nach den Gründen für den ernsten Zustand der Partei einlassen. Und Gysis Mahnungen wischt er mit einer Handbewegung vom Tisch. Parteien rotteten sich nicht nach persönlichen Freundschaften und Vorlieben zusammen, sondern seien wegen politischer Ziele verbunden. Mit dem Parteiprogramm sei »die Basis für eine gemeinsame Partei »unüberwindbar geschaffen«. Lafontaine indirekt an Gysi: »Es gibt keinen Grund, das Wort Spaltung in den Mund zu nehmen. Ich bitte euch alle: Lasst dieses Wort in Zukunft weg!«
Der Disput am Rednerpult hat seine Parallele im Streit über zwei Leitanträge, die dem Parteitag vorliegen. Der alternative Antrag, der unter anderem die innere politische Kultur der Partei zum Thema macht, wird vom Reformerlager zurückgezogen, viele Änderungsanträge werden in den Vorstandsantrag übernommen.
Auch am Tag nach der Wahl entringt man sich mühsam Sachlichkeit. Jetzt heißt es im unterlegenen Reformerlager zu zeigen, dass man selbst kann, was man von anderen verlangt. Entscheidungen der Mehrheit akzeptieren. Die neue Führung solle es besser machen als die alte, hört man. Integrieren, die Landesverbände einbeziehen. Alle scheinen es wie Lafontaine zu halten. Spaltung ist kein Thema. Dietmar Bartsch spricht von einem Gespenst, das herbeigeredet wird. Zugleich ist in Göttingen kein einziges Problem geklärt worden. »Es gibt eine kleine Gruppe, deren Fanatismus mich erschreckt und der mir Angst macht«, hatte Bartsch vor dem Parteitag einer Zeitung gesagt.
Vielleicht meinte er so etwas: In einer Konferenz »Kurs halten« hatte der Lafontaine-Flügel sich der eigenen Kräfte und Vorstellungen vor dem Göttinger Parteitag versichert. Dabei war am Rande des Geschehens Michaele Sojka, eine der erfolgreichen Thüringer Kommunalpolitikerinnen, die vor zwei Wochen in der Stichwahl das Landratsmandat im Altenburger Land gewonnen hatte, von Teilnehmern bedrängt und beschimpft worden, bis sie schließlich die Veranstaltung verließ. Sie hatte den Unmut der Genossen erregt, weil sie zuvor in einem Interview nach Meinung der Kritiker die Rolle des Parteiprogramms geschmälert hatte. In der Bundesgeschäftsstelle der Partei in Berlin wird in dieser Woche ein anderer Fall von Nötigung Andersdenkender den Betriebsrat beschäftigen. Angestellten des Vorstands, die Mitglieder der Partei sind, war durch die Blume angekündigt worden, dass ihre Unterschrift unter dem alternativen Leitantrag arbeitsrechtliche Konsequenzen haben könnte.
Kapitulation am Rande
Am Sonntag ruft in Göttingen ein überraschender Auftritt der Bundesschiedskommission in Erinnerung, wie dünn das Eis ist, auf dem die Partei tanzt. Das gesamte Gremium erklärt,bei der nächsten Wahlen nicht wieder anzutreten. Die Kommission sieht sich nicht in der Lage, den Berg der Verfahren zu bewältigen, mit denen Parteimitglieder andere überziehen. »Unsere Bemühungen haben nicht zur Befriedung der Partei geführt«, sagt Sibylle Wankel namens ihrer Genossen in das betretene Auditorium hinein.
Oskar und Gregor, Sahra und Dietmar - wer in den kommenden zwei Jahren alle vier will, hofft bei der Heimfahrt aus Göttingen auf nicht weniger als ein Wunder.
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