Alternativen gesucht
Parlamente dürfen nicht marktkonform entscheiden - die Märkte müssen demokratiekonform werden
Jede einzelne Maßnahme zur Euro-Rettung der letzten ein bis zwei Jahre mag für sich betrachtet nachvollziehbar und gerechtfertigt sein. Exakt hierin besteht die Gefahr einer Politik auf Sichtweite. Der Blick für den Gesamtzusammenhang geht verloren. Eindrücklich war dies in der Anhörung im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags am 7. Mai 2012 zu erleben. Die Crème de la Crème der deutschen Verfassungs- und Europarechtler, Volkswirtschaftler, Vertreter der Deutschen Bank, des vorläufigen Rettungsschirmes und des Bundesverbands der Deutschen Industrie waren versammelt. Kein einziger Abgeordneter stellte die Frage, ob es denn eine grundsätzliche Alternative zum Umbau des vorläufigen in einen permanenten Euro-Rettungsschirm gäbe. Kein einziger Abgeordneter stellte die Frage nach der großen Linie, zum Beispiel, wie hoch die Gesamthaftung aller Rettungspakete und -schirme für Deutschland ist, dazu noch die Haftungen für den deutschen Anteil der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds und IWF-Anteil gerechnet. Die Gesamthöhe der Haftungssummen Deutschlands für alle Rettungsmaßnahmen (Rettungsschirme, Rettungspakete für Griechenland, Portugal, Irland, EZB-Kredite etc.) beträgt mittlerweile laut dem ifo-Institut 641 Milliarden Euro.
Absage an den politischen Diskurs
Trend 1: Es findet kein grundlegender Diskurs mehr statt. Das aktuelle Beispiel macht es überdeutlich: Der Bundestag diskutiert lediglich noch die Details und die Ausgestaltung seiner Zustimmungsrechte, die Grundausrichtung der Euro-Rettung bleibt alternativlos. Dabei fehlt es nicht an Alternativen, sondern an Mut, deutlich zu machen, welche Vor- und Nachteile jeweils mit einer Lösung verbunden sind. Wenn Politik alternativlos wird, ist sie nur noch ohnmächtiges Vollzugsorgan eines von höherer Macht bestimmten Schicksals. Warum sollen wir dann noch wählen?
Trend 2: Macht wird zunehmend zentralisiert, innerhalb Deutschlands von den Kommunen und der Landesebene hin zum Bund und zur Europäischen Union, innerhalb der Parteien von der Basis zur Spitze, innerhalb der Eurozone von den kleinen zu den großen Ländern. Grundsätzlich entscheiden nur wenige Akteure. Es ist bezeichnend, wenn Parlamentarier kleinerer EU-Länder im persönlichen Gespräch eingestehen, dass sie letztlich vollkommen überfordert seien, Informationen grundsätzlich viel zu spät bekämen - doch nicht deshalb, weil ihre Regierungen etwa so intransparent seien, sondern weil auch diese vom Informationsfluss abgeschnitten sind. Im Grunde würden sie letztlich darauf warten, was der Deutsche Bundestag macht und dann genau das Gleiche entscheiden. Ein trauriges Bild souveräner, selbstbestimmter Staaten. Wir sollten nicht unterschätzen, wie satt es mittlerweile die Bürger und die Zivilgesellschaft kleinerer Länder haben, ständig nach der Pfeife der Großen zu tanzen.
Trend 3: Politische Macht wandert immer weiter in den außerpolitischen und kaum mehr demokratisch legitimierten Raum. Nehmen wir das Beispiel der »Troika«, Vertreter aus EZB, IWF und EU-Kommission. Gesichtslos, namenlos, nicht gewählt, kaum demokratisch legitimiert übt sie massiven Einfluss auf die Politik der zu rettenden Staaten aus bis hinein in die Gestaltung von Handytarifen. Kaum einer weiß mehr so genau, wer hier eigentlich am Wirken ist. So eine undurchsichtige Melange ist die beste Spielwiese für Lobbyisten. Kein Vertreter von Nichtregierungsorganisationen oder Wissenschaftler hat zu diesen Kreisen mehr Zugang. Man kann nur ahnen, wie stark der Einfluss der Finanzmärkte und transnationalen Konzerne hier ist.
Entmachtete Parlamente
Trend 4: Parlamente werden zunehmend übergangen. Aber, so die scheinbar schlüssige Argumentation, müsse denn nicht der Bundestag allen wichtigen Entscheidungen zustimmen, so z. B. der Erhöhung des Stammkapitals des permanenten Euro-Rettungsschirms? Verkannt wird dabei, dass diese Zustimmung immer erst im Nachhinein stattfindet. Und wehe, wenn sich im gewählten Parlament, dem einzigen direkt demokratisch legitimierten Akteur in diesem ganzen Spiel, Widerstand regt oder auch nur der Wunsch entsteht, in Ruhe darüber nachzudenken. Dann folgt eine Variation eines allzu bekannten Dreiklangs. Es heißt dann: »Wir dürfen die Märkte nicht beunruhigen«, es wird damit gedroht: »Scheitert der Euro, dann scheitert Europa« oder es wird von einer veritablen Regierungskrise gesprochen. Denn die Bundestagsmehrheit kann ja kaum gegen die eigene Regierung votieren.
Wer aus diesem Korsett zu entkommen versucht, wird beschimpft und ausgestoßen. So vollziehen die Abgeordneten zähneknirschend nach, was andernorts beschlossen wurde. Sie gleichen mehr und mehr einem Notariat, das, wie es der ESM-Vertrag in Art. 10 (1) verlangt, Beschlüsse »notifiziert«. Wenn Parlamente nicht mehr agieren, nicht mehr gestalten, dann ist unsere repräsentative Demokratie in Gefahr.
Aber Parlamente dürfen nicht marktkonform entscheiden, sondern die Märkte müssen wieder demokratiekonform werden. Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass die Politik schlicht nicht mehr das Durchsetzungsvermögen hat, die Finanzmärkte zu regulieren. Vielleicht haben sogar nur noch die Bürger selbst die nötige Kraft und Unabhängigkeit, systemverändernde Entscheidungen herbeizuführen und durchzustehen, weil sie nicht in dem Maße unter Druck gesetzt werden können wie die Politik.
Da greifen wir von »Mehr Demokratie« ein. Wir informieren und zeigen einen gangbaren Weg, ohne selbst schon vorzugeben, welches die beste »finanzpolitische« Lösung ist. Bei der Bewältigung der Krise darf niemals die Demokratie auf der Strecke bleiben. Und wir setzen auf die kollektive Intelligenz der Vielen.
Eingriffe in nationale Souveränität
Aktuell steht die Verabschiedung des Fiskalvertrages und des Euro-Rettungsschirms an. Der Fiskalvertrag hat zum Ziel, die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten stärker zu koordinieren. Dabei sieht der Vertrag drastische Verschärfungen der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten vor. Er wird tief in die Souveränität der Mitgliedstaaten und in die Haushaltsautonomie der nationalen Parlamente eingreifen. So soll es in Zukunft möglich sein, dass die EU-Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt werden, wenn die im Fiskalvertrag vorgegebenen haushaltspolitischen Regeln nicht eingehalten werden.
Durch den permanenten Euro-Rettungsschirm ESM wird die vorläufige Rettungsschirmpolitik weiter institutionalisiert. Zum ersten Mal wird jedoch nicht nur in Milliardenhöhe gebürgt, sondern ein Stammkapital von 80 Milliarden Euro eingezahlt. Der ESM-Gouverneursrat kann letztlich unbegrenzt hohe Kreditsummen bewilligen. Wir befürchten, dass der Bundestag de facto einen Teil seiner finanzpolitischen Souveränität verliert.
Rechtlich gesehen finden beide Verträge außerhalb der bisherigen EU-Verträge statt. Sie werden direkt weder durch die nationalen noch das Europäische Parlament oder gar eine Bankenaufsicht kontrolliert. Die Führungsriege des ESM entscheidet geheim und genießt Immunität. Beide Verträge können nicht mehr gekündigt werden.
Die rote Linie ist überschritten
Mit diesen Verträgen hat die deutsche Bundesregierung aus unserer Sicht die rote Linie überschritten, die das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen gezogen hat: Das Grundgesetz regelt in Artikel 23 die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Der Bundestag darf seine Budgethoheit nicht an Brüssel abgeben oder substanziell einschränken lassen, auch nicht mit einer Zweidrittelmehrheit. Jeder wahlberechtigte Bürger hat nach Art. 38 Grundgesetz nicht nur ein Recht auf Beteiligung am Wahlakt. Er hat auch ein Recht darauf, dass das gewählte Parlament mit substanziellen Befugnissen ausgestattet bleibt.
Nun sollen Bundestag und Bundesrat ESM und Fiskalvertrag zustimmen und sich und zukünftige Parlamente damit in wichtigen Bereichen selbst entmachten. Das geht nicht mehr ohne die Zustimmung der Bürger!
Wir fordern zum einen Volksentscheide über Euro-Rettungsschirm und Fiskalvertrag. Um Fiskalvertrag und ESM überhaupt ins Leben rufen zu können, wurden die Europäischen Verträge geändert (Art. 136 Abs. 3 AEUV). Bei Vertragsänderungen von grundsätzlicher Bedeutung ist ein Konventsverfahren verbindlich vorgeschrieben. Dies sieht der Lissabon-Vertrag vor. Wir fordern, dass die Regierungen wenigstens das Rechtsstaatsprinzip und die Verträge einhalten, die sie selbst geschlossen haben.
Wir fordern zum anderen die Direktwahl eines Konvents zur Zukunft der Europäischen Union. In einem europäischen Konvent erhalten Bürger, Politiker und alle weiteren gesellschaftlichen Akteure die notwendige Zeit, die immensen Probleme grundlegend und vor allem auch in Alternativen zu denken, diskutieren und zu entscheiden.
Sollte der Bundestag ESM und Fiskalvertrag ohne die Zustimmung der Bürger in einer Volksabstimmung verabschieden, werden wir uns dieses Recht erkämpfen. Dann reichen wir am Tag nach der Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe ein. Jeder Bürger kann sich dieser Beschwerde anschließen. Kostenlos.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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