Foulspiel gegen die Ukraine
Eine Betrachtung zu Politik und Sport
Seit Wochen verknüpfen Medien und Politiker das sportliche Ereignis zu politischen Zwecken mit Vorwürfen und Forderungen an die Adresse der ukrainischen Führung. Und das in einer Weise, die an den Kalten Krieg erinnert. Übersehen wird, dass die Vorwürfe nicht nur die politische Elite treffen, sondern auch bei großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung auf Befremden stoßen.
Es ist erst wenige Jahre her, dass die »Orange Revolution« in der Ukraine von eben diesen Medien und Politikern euphorisch überhöht wurde. Den Ukrainern wurden demokratische Entschlossenheit, Aufbruchwille und die Wendung zu Europa zugesprochen. Tatsächlich hat sich seither im politischen Leben der Ukraine einiges geändert. Die »Revolutionäre« Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko wurden abgewählt - in einer im Wesentlichen als fair und frei beurteilten Wahlentscheidung. Sie hatten ihre Wahlversprechen vergessen und das Land mit ihrem Dauerstreit an den Rand der Unregierbarkeit, der politischen Unberechenbarkeit und der Instabilität gebracht.
Zu Recht werden heute das Fehlen einer unabhängigen Justiz, das Fortbestehen eines Strafgesetzbuchs aus sowjetischen Zeiten, finanzielle und ideelle Einflussnahme auf die Medien, Korruption und Vetternwirtschaft kritisiert. Alle diese Defizite gab es schon zur Amtszeit Juschtschenkos. Auch der politisch und rechtlich fragwürdige Prozess gegen Julia Timoschenko wurde noch zu jener Zeit eingeleitet, Juschtschenko war einer der Hauptzeugen der Staatsanwaltschaft. Die Machtfülle des ukrainischen Präsidenten geht auf eine Verfassungsklage zurück, die von Julia Timoschenko und ihren politischen Anhängern initiiert wurde. Und warum wurde eigentlich die Regierung Juschtschenko/Timoschenko nicht ebenso für das Festhalten an der sowjetischen Rechtsprechung kritisiert, wie das heute geschieht?
Es sind diese Doppelstandards, die in der ukrainischen Bevölkerung Unverständnis hervorrufen und Zweifel an der Aufrichtigkeit der Medien- und Politikkampagne nähren. Sie sind auch Grund dafür, dass viele Menschen in der Ukraine die Krokodilstränen für das Schicksal Julia Timoschenkos nicht teilen, sondern meinen, dass eigentlich fast alle Politiker ins Gefängnis gehörten.
Dazu kommen die tendenziösen Berichte über das Leben in der Ukraine, über Korruption, Prostitution, Menschenhandel, marode Gesundheitseinrichtungen, Tierquälerei und fehlende Begeisterung für die EM. Auch Ukrainer, die nichts mit der politischen Führung ihres Landes gemein haben, verstehen nicht, dass ihre Anstrengungen, ihre Leistungen und ihre Gastfreundschaft nicht gewürdigt werden. Was sollen sie davon halten, dass die DFB-Elf bei ihren Vorrundenspielen nicht im Gastland Quartier bezieht, wohl aber zu Zeichen gegen das »Janukowitsch-Regime« aufgefordert werden, das doch demokratisch legitimiert ist und auch heute noch mehrheitlich getragen wird. Wenn die deutsche Mannschaft in der Ukraine politische Zeichen setzen wollte, wäre ein Gedenken an die Millionen Opfer der Naziokkupation, darunter des makabren Fußballspiels zwischen deutschen Wehrmachtsangehörigen und ukrainischen Kriegsgefangenen vor 75 Jahren in Kiew, angebracht.
Hoffentlich nehmen trotz der Kampagne viele deutsche Fußballfans den weiten Weg auf sich, um sich ein eigenes Bild vom Leben in der heutigen Ukraine, von den Unzulänglichkeiten, aber auch von der Lebensfreude und der großen Gastfreundschaft der Ukrainer zu machen.
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