Anstoß

Marginalien zur Fußball-EM Heute: ANDREAS KÖTTER

  • Lesedauer: 3 Min.

Kaum hat unser Charkower Gastgeber Sascha uns am Bahnhof in Empfang genommen, schon drängt er uns unter den wachsamen Augen der Milizionäre in Richtung U-Bahn. »Hervorragende Massagen!«, empfiehlt er die Bekanntschaft mit den Knüppeln, die an den Gürteln der Uniformierten baumeln. In der prachtvollen Metro-Station wird er nicht müde, auf die Kameras hinzuweisen. Verschwörerisch schiebt Sascha sein Basecap noch tiefer ins blasse Gesicht.

Was auch immer für die UEFA die Gründe waren, die Europameisterschaft an die Ukraine zu geben: Besser hätte man es nicht treffen können. Städte, deren weiträumige Plätze und Straßen selbst die größten Fangruppen mühelos schlucken (der monumentale Lenin auf dem Platz der Freiheit würdigt sie keines Blickes). Bierpreise, wie man sie als Berliner nur aus den frühen Neunzigern kennt. Und ein Geschlechterverständnis, das die Frau als bezaubernden Schmuck des Landes hinreichend definiert. Aus geheimnisvollen Gründen scheinen die Ukrainerinnen sich gern in diese Rolle zu fügen.

In der Wohnung angekommen, die Sascha sich mit einer anderen Familie teilt, führt er uns an einen Holztisch in seinem Zimmer. Und schon nach zwei Runden Wodka verrät er uns, dass er heimlich für den KGB arbeitet. - »Wirklich?« - »Natürlich. Nachher muss ich den Bericht über euch schreiben.« - Ein Witz! Aber einer, der (als wäre er eine Gogol-Figur) keine Rückschlüsse darauf zulässt, ob Sascha den Witz bloß erzählt oder ob er der Witz selber ist. Weiß ich denn in diesem Moment, ob die stumpf starrende Webcam uns nicht doch aufnimmt? Saschas Fürsorge wird definitiv zur Überwachung, als er uns zum Duschen nötigt, bevor wir essen: mit Seife! Die EM ist ihm nur ein Achselzucken wert. Dennoch lässt er uns nicht aus den Augen, bis er uns in den Bus zum Stadion gesetzt hat.

Dort poltert eine Gruppe deutscher Jugendlicher. Die Einheimischen dulden sie, wie man ungezogene Sechsjährige duldet. Das angestrengte, bierselige Grölen der Halbstarken bringt Sexismus, Nationalismus und provinzielle Beschränktheit verblüffend effektiv auf den Punkt. Wir hingegen, in denen sich Reiselust und Fußballfreude verbinden, sind im fast schon ironischem Eifer hierher gekommen, auch die absurdesten Regeln zu befolgen.

Endlich, im aufgeheizten Metalist-Stadion ist von Gelassenheit nichts mehr zu spüren, die Atmosphäre eines unvergesslichen Fußball-Klassikers würdig. Es hätte ein unglaublicher Abend werden können - wenn nur das deutsche Team einen Gegner gehabt hätte.

Zurück bei Sascha, wird der Sieg begossen. Unser Gastgeber braucht zwei Flaschen, bis ihm die wenigen Vokabeln reichen, um mit Opferzahlen und Familienschicksalen während des Zweiten Weltkrieges die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Es ist ihm unbegreiflich, dass sein Neffe heute Sympathien mit Neo-Faschisten offen zur Schau stellt. Später in der Nacht, nachdem er uns die Betten gemacht und geduscht hat, deckt Sascha jeden von uns eigenhändig zu. Dann legt er sich selbst auf den Dielenboden, um eine Nacht lang Ruhe zu finden.

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