Gipfel mit offenem Ende
Europäischer Rat will über Wachstumsförderung und den Umbau der EU beraten
Ob die Fußballeuropameisterschaft Pate steht? Pünktlich zur entscheidenden Phase des kontinentalen Turniers in Polen und der Ukraine verhalten sich die EU-Staats- und Regierungschef sowie die internationale Presse vor dem heutigen Start des EU-Gipfels so, als ob es um ein wichtiges Fußballspiel ginge. Schon seit Tagen ist das Treffen ein öffentliches Thema. Die Stars erklären und kündigen an, Beobachter spekulieren und ordnen ein, Emotionen kochen hoch. Doch wie letztlich alles laufen wird, kann erst das Ereignis selbst erzählen. Überraschungen inklusive.
Kühle Köpfe tun in solchen Zeiten gut. Auf EU-Ebene übernimmt diese Rolle Herman Van Rompuy. Zwar hatte auch der EU-Ratspräsident noch ein wenig die Stimmung angeheizt und am Dienstag mit seinen Vorschlägen für eine Vertiefung der Union für heftige Reaktionen gesorgt. Gestern nun verschickte er das offizielle Einladungsschreiben an die Gipfelteilnehmer. Das darin niedergeschriebene Programm ist allerdings wieder so nüchtern formuliert, wie es sich für einen potenziell neutralen Gastgeber gehört.
Mit dem Thema »Mehrjähriger Finanzrahmen« (MFR) soll das Treffen beginnen. Hier geht es darum auszuloten, wie viel Geld die EU-Mitgliedsstaaten den Institutionen der EU zwischen 2014 und 2020 für ihre Aufgaben zur Verfügung stellen. Kommission und Parlament fordern mehr, ein Kern von bedeutenden Mitgliedsländern, darunter auch Deutschland, weisen diese Forderungen strikt zurück.
Nach einem ersten Austausch auch mit Martin Schulz, dem Präsidenten des EU-Parlaments, soll das Diskussionsfeld ausgeweitet werden auf den viel gepriesenen Wachstumspakt. Er soll noch heute Abend verabschiedet werden - ein Vorhaben, das die Staats- und Regierungschefs schon seit über einem Jahr verfolgen. Doch jetzt, so heißt es im Vorfeld, wird man die Maßnahmen für mehr Wirtschaftsleistung und zur Schaffung von Arbeitsplätzen als genau den Wachstumspakt hinstellen, den der neue französische Staatspräsident François Hollande in seinem Wahlkampf versprochen hatte. Hollande könnte so sein Gesicht wahren, die EU das machen, was sie sowieso wollte, und das Geld wird aus den vorhandenen EU-Töpfen genommen. Dass es 130 Milliarden Euro sein sollen, darauf hatten sich Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie die Ministerpräsidenten Spaniens und Italiens, Mariano Rajoy und Mario Monti, bereits bei einem Treffen am vergangenen Freitag geeinigt.
All das soll vor dem Abendessen abgehakt werden, bei dem es dann ans Eingemachte geht. Zusammen mit dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) wird Van Rompuy sein Programm für eine vertiefte Wirtschafts- und Währungsunion zur Debatte stellen. Auf dem Mai-Gipfel war Van Rompuy mit diesem Bericht beauftragt worden. Es sind erste Ideen für ein »Mehr Europa« für all jene Mitgliedsstaaten, die mitmachen wollen, die Van Rompuy zusammen mit Kommissionschef José Manuel Barroso, dem Präsidenten der EZB, Mario Draghi, und Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker formuliert hat.
Wie die Gipfelteilnehmer mit dem Papier umgehen werden, ist offen. Vor der Veröffentlichung hieß es, der Gipfel wolle sich darauf einigen, bis Ende des Jahres einen Zeitplan für die Umsetzung der Maßnahmen festzulegen. Nach der Veröffentlichung scheint es größeren Diskussionsbedarf zu geben. Es wird nicht leicht werden, die deutsche Bundesregierung, aber auch andere nordeuropäischen Euroländer wie Finnland und die Niederlande von einer Solidargemeinschaft mit angeschlagenen, aber nicht zu rigorosem Sparen bereiten südeuropäischen Staaten zu überzeugen.
Um diese aktuellen Krisenstaaten wird sich der Europäische Rat sicher auch kümmern, aber im Programm von Van Rompuy tauchen sie nicht auf. Für Freitagmorgen hat er angekündigt, über seine Vorhaben in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit zu informieren. Nach dem offiziellen Ende des EU-Gipfels werden sich die Staats- und Regierungschefs der Euroländer zu einem weiteren Gipfel in Brüssel zusammensetzen, während die Kollegen ohne Euro schon nach Hause dürfen.
Der italienische Ministerpräsident Mario Monti soll gestern schon angekündigt haben, zur Not bis Sonntag in Brüssel bleiben zu wollen. Spätestens dann wird ein Vergleich mit dem Fußball nicht mehr klappen. Denn einen neuen Europameister wird die Welt dann kennen. Den Weg der EU aus der Krise mit Sicherheit noch nicht.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.