Demokratie im Haustürgeschäft
Vor 15 Jahren wurde die »Aktion Zivilcourage« in Pirna gegründet / Verein will verstärkt Bürger zu Engagement ermutigen
Die erste Idee war so mutig wie rührend naiv. Als bei einer Wahl Ende der 90er Jahre in Rathen in der Sächsischen Schweiz rechtsextreme Parteien erstmals ein deutlich zweistelliges Wahlergebnis einfuhren, beschlossen einige junge Leute in Pirna, in dem Ort eine Lesung aus einem Buch über jüdische Schicksale zu organisieren. »Wir dachten, dann wird alles gut«, sagt Sebastian Reißig. Die geplante Lesung fand indes nicht statt: »Wir haben uns dann doch nicht getraut.«
Dafür trauten sich die Jugendlichen, ein noch heißeres Eisen anzufassen: Sie luden zu einem Runden Tisch, an dem sie mit Politik und Verwaltung, Polizei und Justiz über das Problem des zunehmenden Rechtsextremismus in der Region reden wollten. Der zeigte sich nicht nur bei Wahlen, sondern auch bei Überfällen, wie einige von ihnen selbst erfuhren. Das Echo auf ihren Aufruf war zunächst bescheiden, was nicht nur der eher unprofessionell gestalteten Einladung geschuldet war: »Ein Drittel hat damals das Problem nicht wahrnehmen wollen«, sagt Reißig, »und ein Drittel wollte nicht darüber reden, um dem Tourismus nicht zu schaden.«
Die Gruppe, die sich »Aktion Zivilcourage« nannte, schwieg indes nicht - und bekam Rückhalt, als eine ihrer Aktionen im Eklat endete. Für den 4. November 2000 hatten sie zu einer Demo gegen Rechts aufgerufen und dafür zuvor bei Vereinen und Schulen geworben: »Wir haben Demokratie quasi im Haustürgeschäft verkauft.« Immerhin 800 Menschen kamen - und sahen sich einer Blockade von Nazis gegenüber; auch Steine flogen. Von dem Zeitpunkt an, sagt Reißig, »konnte das Problem niemand mehr wegreden«.
Die »Aktion Zivilcourage«, deren Geschäftsführer Reißig ist, hat die Debatte wach gehalten. Der Verein, der einst zu den ersten Demokratieinitiativen in Sachsen gehörte und morgen 15-jähriges Jubiläum feiert, klärte auf über rechtsextreme Ideologie und die Strukturen der Nazis in der Sächsischen Schweiz; er erinnerte an die braune Vergangenheit in einer Stadt, in der während der NS-Zeit in der Vernichtungsanstalt auf dem Sonnenstein Tausende geistig Kranke ermordet wurden, und er stärkte viele kulturelle Angebote in Dörfern, in denen sich die NPD breit zu machen drohte.
Binnen 15 Jahren hat sich in der Sächsischen Schweiz einiges geändert. Die Nazis sind weniger präsent, die Zahl der Übergriffe ist gesunken. Zudem gebe es ein verbreitetes Bewusstsein, dass den Rechten offensiv und dauerhaft entgegen getreten werden muss. Die Region sei »spät erwacht, hat sich aber eine gute Therapie verordnet«, sagt Reißig. Die »Aktion Zivilcourage« hat daran Anteil. Die Seminare, die in Schulen abgehalten werden, sind so populär, dass sie die Nachfrage kaum befriedigen kann; selbst aus München kommen Anfragen. Jugendliche werden mit der Geschichte vertraut gemacht und erneuern bei Sommercamps etwa regelmäßig Tausende bunte Kreuze, die über Pirnaer Fußwege zur Gedenkstätte Sonnenstein führen. Zunehmend berät man nun andere Initiativen. Man wolle sich, sagt Koordinatorin Kristin Heinig, »weniger auf Nazis als Gegner fokussieren, sondern aktive Bürger bestärken«.
Wie das aussehen kann, zeigt der »Markt der Kulturen«, ein von der Aktion Zivilcourage mit erfundenes multikulturelles Fest, das seit zehn Jahren in Pirna stattfindet und Zehntausende Besucher anlockt. Deutlich wird das aber auch bei der Finanzierung einer für Ende 2012 geplanten Ausstellung über Anne Frank, für die 15 000 Euro an Spenden bei den Bürgern und Firmen der Region eingeworben werden sollen. Die Bürger, erklärt Reißig, sollten sich für das Vorhaben engagieren und sich auf diese Weise auch stärker damit identifizieren.
Die »Aktion Zivilcourage« versucht dabei bewusst, alle Bürger ebenso wie Verwaltung oder Behörden einzubeziehen. Der Verein versteht sich als überparteilich und pflegt guten Kontakt zu Linken ebenso wie zum CDU-Mann Markus Ulbig, früher Pirnaer OB und heute Innenminister. Zwar stößt die von dessen Haus abverlangte Extremismusklausel auch bei dem Pirnaer Verein auf harsche Kritik: Der Umgang damit »frisst enorm viel Energie und ist kontraproduktiv«, sagt Heinig. Auf Konfrontation setzt der Pirnaer Verein indes nicht - und ist wohl auch deshalb zu einer allseits respektierten Institution geworden: Wenn morgen der Geburtstag begangen wird, sind unter den Gästen sogar Minister und Polizeichefs. Und gefeiert wird im Landratsamt.
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