Von der Front an den Start

Die Paralympics kehren an ihren Geburtsort zurück - immer mehr Athleten sind im Krieg versehrte Soldaten

  • Oliver Händler
  • Lesedauer: 5 Min.

Derek Derenalagi war mit einem Aufklärungstrupp der britischen Armee in Afghanistan unterwegs, als er von einer Bombe 30 Meter weit auf einen Felsen geschleudert wurde. »Ich sah an mir herab und erkannte, dass mein linkes Bein fehlte und mein rechtes nur noch an einem Stück Fleisch und Knochen hing«, erinnert er sich. »Ich dachte: Das ist der Tag, an dem ich sterbe.« Nicht nur Derenalagi dachte so, auch die Lazarettärzte, die versuchten, ihn wiederzubeleben, und dann für tot erklärten. Doch der Pfleger, der ihn gerade in den Leichensack stecken wollte, spürte einen schwachen Puls. Mittlerweile war auch das zweite Bein amputiert. »Ich bin einfach nur froh, dass ich es geschafft habe«, sagt Derenalagi heute in doppelter Hinsicht: Er lebt noch, und er hat sich für die Paralympischen Spiele in London qualifiziert.

Bis dahin war es ein langer Weg. Wochen nach der Operation erwachte er im Krankenbett daheim ohne Erinnerung an die Katastrophe im Juli 2007. »Was machst Du denn in Afghanistan«, fragte er seine Frau Anna, die er zuerst erblickte. Sie weinte, als er seine Schuhe ausziehen wollte, weil ihm zu heiß sei. Die erschütternden Worte brachte sie nicht über die Lippen, also schoss sie ein Handyfoto von ihrem Mann und zeigte es ihm. »Das bist Du jetzt, Derek!« Gemeinsames Weinen. »Das war der Tiefpunkt meines Lebens«, sagt Derek Derenalagi.

Wenig später sieht der Mann, der schon in seinem Geburtsland Fidschi immer Rugby gespielt hatte, die Paralympics und will endlich raus aus dem Krankenbett und rein in die Sporthalle. »Battle Back«, ein neues Programm des britischen Verteidigungsministeriums, hilft ihm dabei und erkennt schnell sein Talent - im Kugelstoßen. Mittlerweile ist er auch Weltspitze mit dem Diskus und dem Speer. »Vor meiner Verwundung hatte ich so etwas nie in der Hand«, sagt Derenalagi gegenüber »nd«. In wenigen Wochen will er eine paralympische Medaille vor seinem Heimpublikum gewinnen.

Vor wenigen Jahren hatte der Comedian Jimmy Carr mit einem Witz für viel Empörung in England gesorgt: »Sagt, was ihr denkt über die vielen amputierten Soldaten in Irak und Afghanistan, aber wir werden 2012 ein tolles Paralympics-Team haben.« Mit der Zeit bekommt Carr immer mehr Recht. Penny Briscoe, Leistungssportdirektorin der British Paralympic Association, sagt, dass der Anteil der ehemaligen Soldaten im Team jetzt etwa zwei Prozent beträgt. »In Rio 2016 wird er wohl schon auf fünf Prozent steigen.« Alle Starter 2012 wurden vor 2009 krank oder verletzt. Danach gab es bislang noch weitere 120 britische Soldaten, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten.

Kein Wunder also, dass Major Martin Colclough »Battle back« ins Leben rief, auch wenn das Programm nicht primär auf Leistungssport ausgerichtet ist. 1500 Soldaten haben es seit 2008 bereits genutzt. »Battle Back« wird von einer weiteren Organisation gefördert, die sich »Help for Heroes« nennt. Es wäre nicht das Militär, käme man ohne martialische Heldenverehrung aus. Trotzdem ist an dem Ziel nichts auszusetzen, durch Sportangebote Verwundeten und Kranken die mentale und physische Rehabilitation zu erleichtern und ihre Fitness zu steigern. Das Angebot reicht von alpinem Skilauf über Paragliden, Kajak- und Radtouren bis zu Wasserski. »Paralympischer Erfolg ist ein interessantes Nebenprodukt«, sagt Colclough.

Das Programm, das bislang 33 Athleten in Vancouver 2010 und nun in London zu den Paralympics verhalf, wurde ausgerechnet am 28. Juli 2008 initiiert. Exakt 60 Jahre nachdem Sir Ludwig Guttmann die ersten Stoke Mandeville Disabled Games für verletzte Weltkriegsveteranen ins Leben rief (siehe Spalte links), welche den Beginn der modernen Paralympischen Bewegung markierten.

Viele Millionen Pfund investiert das Verteidigunsministerium seit 2008 in »Battle Back«, hinzu kommen knapp 900 000 Pfund von »Help for Heroes«. Davon werden die Sporthallen bezahlt, die teuren Spezialsportgeräte und das Personal, das den Soldaten bei der Karriereplanung hilft. »›Battle Back‹ leistet fantastische Arbeit. Mir haben sich viele Türen im Behindertensport geöffnet, wofür ich sehr dankbar bin«, sagt Derenalagi, der früher nie zu Olympia wollte. »Der Traum von einer Medaille kam erst, nach dem ich meine Beine verloren hatte.«

Ähnliches gilt für Jon-Allan Butterworth. Er wollte immer nur Soldat sein, sagt er »nd«. Nun ist er Profiradsportler im Great Britain Cycling Team. Bevor Butterworth am 4. Augst 2007 seinen Unterarm bei einem Raketenangriff in Irak verlor, fuhr er nur als Kind mal Rad. Jetzt will er Gold, »in jedem Rennen, in dem ich starte«, sagt er. Mindestens zweimal fährt er im Velodrome des Londoner Olympic Parks.

Ihn inspirierten Chris Hoys Olympiasiege von Peking, nun trainieren sie sogar gemeinsam. »Ich fahre erst seit drei Jahren Rad. Damals hat ›Battle Back‹ mein Talent entdeckt. Ich war zwar noch nie in besserer Form als jetzt, aber in Rio werde ich 2016 noch stärker sein«, ist sich Butterworth sicher. Dann werde mit »Front Line to Start Line« ein noch besseres Programm seine Wirkung entfalten. »Battle Back« helfe, die richtige Richtung einzuschlagen und Material zu bekommen, so Butterworth. Das Folgeprogramm ist dann noch erfolgsorientierter.

Das verstärkte Interesse von Regierung und Verband an den Soldaten ist verständlich. »In der Armee habe ich gelernt, mich einer Sache hinzugeben. Ich arbeite zielgerichtet und stecke niemals auf. Das hilft mir jetzt sehr im Sport«, sagt Butterworth. Trotzdem bedeutet das nicht, dass Soldaten kein Lampenfieber hätten. »An der Startlinie bei den Paralympics werde ich noch nervöser sein als an der Frontlinie in Irak«, sagt Butterworth allen Ernstes. Wenn er dann davon erzählt, wie er die Rakete, die sein Leben veränderte, schon Sekunden zuvor immer lauter pfeifen hörte, kann man das kaum glauben.

Derek Derenalagi wird im Kugelstoßring des Olympiastadions etwas anderes fühlen als Nervosität. Für seine 2007 erst 16-jährige Tochter war das Bild vom im Rollstuhl sitzenden Vater ohne Beine zu heftig, sie ging zurück zu den Großeltern nach Fidschi. »Wir haben seitdem zwar noch oft Kontakt über Skype, aber zu den Paralympics wird sie endlich wieder herkommen und ihren Daddy im Stadion anfeuern. Das wird überwältigend sein.«

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