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Unverzichtbar und doch Albtraum

Beschneidung - das jüdische Dilemma?

  • Hanna Rheinz
  • Lesedauer: 5 Min.

Es war nur eine Frage der Zeit. Die Beschneidung - in einem Atemzug genannt mit der sozialen Evolution von Menschenopfer und Tieropfer, wird von einem Kölner Landgericht als »Körperverletzung« bezeichnet; die Religionsfreiheit muss sich dem Kindeswohl unterordnen.

Die Europäische Rabbinerkonferenz bezeichnet das Urteil nach wie vor als »schwersten Angriff auf jüdisches Leben seit dem Holocaust«. Die Existenz der jüdischen Gemeinschaft werde in Frage gestellt. Wer sein Kind nicht beschneiden lasse (am achten Tag oder bis zum 13. Lebensjahr) stelle sich, so der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, »außerhalb der jüdischen Gemeinschaft«.

Die jüdische Mitbürgerin kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. In den USA und Israel sind engagierte jüdische Eltern und Ärzte seit Jahrzehnten unterwegs, um die Brit Mila, die Beschneidung, durch das unblutige Brit Shalom-Ritual zu ersetzen. Den Bund mit Gott ins Fleisch schneiden lassen, einem unversehrten acht Tage alten Säugling eine Wunde beibringen, scheint als Identitätszeichen des Judentums (und des Islams, das ältere Jungen beschneidet) nicht mehr zeitgemäß. Erlaubt dies, das jüdische Leben ganz zur Disposition zu stellen?

Bis vor kurzem wurden der Entfernung der Vorhaut geradezu magische Qualitäten zugeschrieben: Hygiene, Verhinderung von Geschlechtskrankheiten, HIV, Blasenentzündungen und Gebärmutterhalskrebs bei Frauen, sexuelle Lust. Die Beschneidung ist Teil der jüdischen Identität und des kulturellen Gedächtnisses, ebenso wie der Schmerzensschrei des Säuglings: Um die Schmerzen zu lindern, schiebt der Mohel (er beschneidet) dem acht Tage alten Jungen ein mit Honig und Wein getränktes Tuch in den Mund, wodurch, wenn kein Schwips, so doch eine leichte Betäubung eintritt.

Die Langzeitstudien der Neuropsychologen und Traumaforscher sprechen eine andere Sprache: Bei 90 Prozent der ohne Narkose beschnittenen Säuglinge, deren Schmerzempfindung bis vor Kurzem geleugnet wurde, treten Verhaltensveränderungen, emotionale, psychische und vegetative Störungen auf: Ess- und Schlafstörungen, Ängstlichkeit, Bindungsprobleme.

Psychoanalytisch betrachtet, erscheint die Beziehungsdyade »jiddische Mamme - Sohn« als kulturell idealisierte Verarbeitung eines frühkindlichen Traumas: der Sohn bleibt ängstlich an die Mutter gebunden, die ihrerseits ihr unbewusstes Schuldgefühl durch Festklammern des Sohnes bis ins Erwachsenenalter hinein kompensiert.

Je sicherer ein Kind an Mutter und Vater gebunden ist, desto widerstandsfähiger ist es, desto angstfreier bewältigt es den »Schnitt« in das Grundvertrauen. Das Ohnmachts- und Schmerzerlebnis Beschneidung führt nicht zwangsläufig dazu, dass der Junge erkrankt oder labil wird. Dass die Eltern ihr Kind einem Fremden überlassen, der ihm - im Namen Gottes - Schmerzen zufügt, erschüttert allerdings das Vertrauen des Kindes. Doch die Psychoanalyse selbst ist von der traumabedingten Labilität ihres Gründers Sigmund Freud beeinflusst: als Kind wurde Freud Zeuge, wie sein Bruder Julius beschnitten wurde - und daran starb. Was für ein Volk, stöhnten schon die Griechen, das seine acht Tage alten Jungen verstümmeln und ohne Not die Vorhaut amputieren lasse!

Und doch führt kein Weg an der Beschneidung vorbei. Anders als die Schehita, das Schächten, ist die Brit Mila in der Tora detailliert beschrieben. Obwohl jüdische Eltern, Ärzte, Rabbiner und Bioethiker wie Ronald Goldman und David H. Gollaher sie als »Genitalverstümmelung«, als Verstoß gegen das hippokratische »Primum non nocere« - das Gebots, keinen Schaden zu verursachen - betrachten, wird die Forderung »Jews against Circumcision«, die Beschneidung auszusetzen, bis das Kind selbst mitentscheiden kann, ohne Folgen bleiben.

Es ist die Wunde, die den Eintritt in ein Leben ohne Ausgrenzung und Diskriminierung ermöglicht. Jüdische Zugehörigkeit wird über Schmerz definiert; dies mag als »archaisch« bezeichnet werden, doch für die Rabbiner und die Mehrheit der Juden bleibt die »Bris« unverzichtbar.

Die Erwartung, wissenschaftliche Erkenntnisse könnten die Macht des Wortes in der Tora aushebeln, ist naiv. Welten trennen die Vertreter der Politik, der Wissenschaft, der Rechte der Kinder. Ein Dialog zwischen ihnen und den Rabbinern ist nicht möglich. Ebenso wenig ein Kompromiss oder »Bewusstseinswandel«. Die Abschaffung der »Bris« ist undenkbar. Auch dies unterscheidet die Beschneidung vom Schächten. Im Fall der Tiere fordert die Tora die schonendst mögliche Methode - und öffnet Tür und Tor in die Zukunft mit ihren veränderten Techniken. Im Fall der Brit Mila ist von Schmerzfreiheit nie die Rede.

Im Gegenteil. Es scheint, als sei der Schmerz das Tor, das jeder Jude zu durchschreiten habe. Man mag dies »archaisch« oder »irrational« nennen, aber ebenso irrational ist die Erwartung, ein Gottessohn würde die Menschen retten oder die Wissenschaft könne verlässliche Wahrheiten produzieren.

Die Gefahr liegt woanders. Während in den USA und Israel niemand auf die Idee käme, besorgte Eltern als Nestbeschmutzer und Abtrünnige einzuschüchtern, wird der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland jedweder Dialog geradezu verboten. Von innen wie von außen - man denke nur an die deutschen Politiker, die erneut die Religionsfreiheit und den Ruf der Republik gefährdet sehen.

Im Schatten der Schoa zeichnet sich intellektuelle Erstarrung und eine Störung der Empathie ab. Wer als Jude in Deutschland anders denkt und argumentiert, wird unverzüglich sozial ausgegrenzt und totgeschwiegen. Oder womöglich einem Redeverbot unterstellt. Wer in der Folge Opfer von Schikanen wird, hat es sich selbst zuzuschreiben.

Unterdessen wird das Urteil von Köln längst als Signal an die Juden missverstanden, das Judentum aufzugeben oder das Land zu verlassen. Den kleinen Jungen berührt das noch nicht. Er wird auch in Zukunft schreien. Der Mohel wird ihn beschneiden. Vielleicht wird der eine oder andere eine Narkose wünschen oder das in Honig geschwenkte Tuch ein wenig länger in den Wein tauchen.

Die Autorin ist jüdische Publizistin, promovierte Psychologin, Kulturwissenschaftlerin, ehemalige Leiterin des Jüdischen Kulturmuseums Augsburg.

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