Das Gericht kannte keine Gnade
Russlands Präsident Putin im Popularitätstief
»Schuldig!« Das Wort fiel bereits im ersten Satz, mit dem die Vorsitzende Richterin Marina Syrowa gestern gegen 15 Uhr Moskauer Zeit mit der Verkündung des Urteils gegen die Angeklagten Maria Aljochina, Nadeshda Tolkonnikowa und Jekaterina Samuzewitsch begann. Die jungen Frauen - Mitglieder der feministischen Punkgruppe Pussy Riot - hatten im Februar, kurz vor den russischen Präsidentenwahlen Anfang März, in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale die Gottesmutter um die Vertreibung Wladimir Putins gebeten. Die Frauen hätten »keine Reue gezeigt«, die »öffentliche Ordnung verletzt« und die »Gefühle der Gläubigen beleidigt«, sagte Richterin Syrowa bei der Urteilsverkündung. Das Gericht habe seine Entscheidung auf der Grundlage der »Aussagen der Angeklagten selbst und anderer Beweise« gefällt, so Syrowa.
Ein Strafmaß hatte die Richterin zunächst aber noch nicht genannt. Staatsanwalt Alexander Nikiforow hatte vergangene Woche für die Angeklagten jeweils drei Jahre Haft beantragt. Präsident Wladimir Putin selbst, dem Kritiker im In- und Ausland politische Einflussnahme auf das Urteil vorwerfen, hatte zuletzt öffentlich geäußert, man solle den Frauen nicht zu harte Strafe auferlegen. Die Verteidigung verlangte Freispruch.
Nach dem Schuldspruch reagierten die Angeklagten und ihre Anwälte zunächst gefasst. Aufgrund der von ihnen beklagten zahlreichen Verstöße gegen geltendes Recht hatten sie fest mit einer Verurteilung gerechnet. Nach zweieinhalbstündiger Verlesung der Urteilsbegründung, die in wesentlichen Teilen dem Plädoyer des Staatsanwalts folgte, verkündete Marina Syrowa das Strafmaß: zwei Jahre Haft, die halbjährige Untersuchungshaft wird angerechnet.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidigung will Berufung einlegen und notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gehen.
Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich schon lange vor Beginn der Urteilsverkündung mehrere hundert Menschen versammelt. Es gab Demonstrationen sowohl für als auch gegen die Punkerinnen. »Mögen Pussy Riot und all ihre Unterstützer in der Hölle verbrennen«, rief ein Gläubiger. Rund 100 Menschen skandierten indes »Freiheit für Pussy Riot«. Mehrere Protestteilnehmer wurden festgenommen, darunter der linksradikale Oppositionelle Sergej Udalzow und der frühere Schachweltmeister Gari Kasparow.
Blitzproteste vor dem Gerichtsgebäude und an den Zugängen zur Moskauer-Christ-Erlöser-Kathedrale im Moskauer Zentrum, dem einstigen »Tatort«, hatten bereits Mittwoch und Donnerstag stattgefunden. Der Sicherheitsdienst der Kirche ging gewaltsam gegen die Teilnehmer vor, dabei kamen auch Fotografen und eine Journalistin der kritischen »Nowaja Gaseta« zu Schaden. Fünf Protestler wurden kurzzeitig festgenommen. Am Freitag und an den Vortagen kam es zudem in über 40 Städten weltweit zu spontanen Solidaritätskundgebungen.
Auch vor der russischen Botschaft in Washington demonstrierten Anhänger der Band. Die Diplomaten weigerten sich jedoch, die von der amerikanischen Sektion von Amnesty International gesammelten Unterschriften entgegenzunehmen, und warfen die Blätter auf den Gehsteig.
In den Wochen zuvor hatten auch zahlreiche Weltstars die Freilassung der Pussy-Frauen gefordert. Deren Worte, glaubt Altdissident Wladimir Bukowski, der für antisowjetische Hetze selbst mit langjähriger Haft in sibirischen Straflagern büßte, hätten in den Augen der Massen ähnliches Gewicht wie das von Ärzten.
Daran könnte etwas sein. Nach neuesten Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums erreichten die Zustimmungsraten für Präsident Putin im Juli ihren bisherigen Tiefpunkt. Nur noch 48 Prozent äußerten Sympathie für Putin und seine Politik. Im Mai waren das noch 60 Prozent. Beobachter glauben, dass die Empörung über das Pussy-Riot-Urteil die zerstrittene außerparlamentarische Opposition Russlands wieder zusammenschweißen und Massenproteste im Herbst anfeuern könnte.
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