Herr und Diener

Am 28. August 1749, vor 263 Jahren, wurde der Dichterfürst Goethe geboren / Goethes Briefe aus Italien: Ein neuer Band der historisch-kritischen Ausgabe

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach fünfzehn Tagen das erste Lebenszeichen. Am 3. September 1786, in aller Herrgottsfrühe, war Goethe in Karlsbad aufgebrochen, heimlich und ohne ein Wort der Erklärung, nun, in Verona und kurz vor der Abreise nach Venedig, ließ er endlich von sich hören. Er schrieb einen Brief an Philipp Seidel, seinen Diener. Es sei ihm alles nach Wunsch geglückt, meldete Goethe und schärfte ihm noch einmal ein, nichts über seinen Aufenthaltsort und die Reisepläne in Weimar zu verraten. Seidel war der Einzige, der wusste, wohin Goethe wollte, er war Freund und engster Vertrauter, ein munterer Bursche, flink, hell, selbstständig und unentbehrlich, ein Diener, wie Goethe ihn nie wieder hatte, »im edelsten Sinne mein Geschöpf«. Fürs Erste musste er die Briefe an den Herzog, an Charlotte von Stein, Christian Gottlob Voigt sowie Caroline und Johann Gottfried Herder verteilen, die sein Herr mitgeschickt hatte.

Jetzt, in Band 7 der historisch-kritischen Briefausgabe Goethes mit allen Schreiben aus Italien, taucht Philipp Seidel endlich auf. Er, sechs Jahre jünger und Autodidakt, war ja schon die ganze Weimarer Zeit an der Seite des Dichters, einer seiner »Schutzgeister«, ein Mann für alle Aufgaben. Goethe hatte ihn von seinem Vater übernommen, Seidel schrieb schon den »Götz« und den »Werther« ab, organisierte nun den Haushalt, sie duzten sich und lebten einträchtig wie Brüder, schliefen zuweilen im selben Raum, schwatzten ganze Nächte hindurch und hatten natürlich keine Veranlassung, sich Briefe zu schicken. Das war nun, zwischen September 1786 und Juni 1788, anders. Goethe brauchte den Diener während seiner Abwesenheit so dringend wie nie. Nur Seidel konnte das Haus verwalten und alle geschäftlichen Angelegenheiten in Weimar zuverlässig erledigen, auch die Finanzen.

Und Seidel enttäuschte ihn nicht. »Du hast deine Sachen gut gemacht«, bescheinigte ihm Goethe am 9. Dezember 1786. Er war inzwischen in Rom, es herrschte »köstliches Wetter«, inzwischen hatte man den inkognito Reisenden auch erkannt, trotzdem riet er seinem Diener, sich auf nichts einzulassen. Seinen nächsten Freunden durfte er jetzt aber die römische Adresse geben, und außerdem sollte er in Weimar einigen Damen und Herren Grüße überbringen. Goethe hatte viele Wünsche. Seidel musste den Kontakt zum Weimarer Hof halten, die anfallende Post erledigen und war auch der Verbindungsmann zum Verleger Göschen, mit dem gerade die Herausgabe der »Schriften« vereinbart worden war und der ungeduldig auf Goethes Manuskripte wartete. Er überwies auch das Geld für den Aufenthalt seines Herrn, nahm die in Rom entstandene Versfassung der »Iphigenie« in Empfang und gab sie an Herder weiter. Aber vorher las er das Manuskript. Er fand, selbstbewusst und gar nicht schüchtern, dass zwei Szenen bei der Umarbeitung verloren hatten. »Was du von meiner Iphigenie sagst«, schrieb Goethe, »ist leider wahr.«

Die Italienreise, auf der sich Goethe nach quälenden Dienstjahren am Hof und magerer poetischer Ausbeute wiederfand, dauerte beinahe zwei Jahre. In dieser Zeit hat er 156 überlieferte Briefe an 30 Adressaten geschrieben. 27 dieser Schreiben gingen an Philipp Seidel, der mindestens 28 Mal antwortete, aber von diesen Briefen ist nicht einer bekannt. Das alles ist, präzise nach den Handschriften ediert, im neuen Briefband versammelt, der im Anhang zudem weitere 193 verloren gegangene, jedoch erschlossene Schreiben nachweist, Datierungen klärt oder korrigiert und im Kommentarband, mit weit über sechshundert Seiten doppelt so stark wie der Textteil, einen wahren Kosmos an Erklärungen und Informationen zum Italien-Aufenthalt liefert.

Noch nie ist Goethes Korrespondenz so eingehend und penibel dokumentiert und erläutert worden wie hier. Seine Unternehmungen, die Weimarer Reaktionen auf seine Flucht, die italienischen Freunde, die Briefpartner, die historischen Gegebenheiten, die Rückkehr zur Dichtung, seine Postsendelisten, sein Konto für die Reise oder Seidels Haushaltsrechnung - die Herausgeber, fixiert noch aufs winzige Detail, lassen keine Frage offen und bescheren dem Leser eine schier unfassbare Fülle von Einzelheiten. So weiß man nun auch, dass Goethes Briefe, immer sonnabends aufgegeben, in der Regel sechzehn Tage bis Weimar brauchten und montags ankamen. Von Weimar nach Rom dauerte es etwas länger, meist neunzehn Tage. Posttage waren hier immerhin Montag, Dienstag und Freitag.

Im letzten Brief an Philipp Seidel, geschrieben Mitte März in Rom, kündigte Goethe seine Abreise an. Als er wieder in Weimar war, kam bald Christiane Vulpius ins Haus, und die Wege der Vertrauten trennten sich. Nach einer Weile erlosch jeder Kontakt. Seidel heiratete, wurde Rentkommissar, kam zu Wohlstand, baute sogar ein Haus, erkrankte 1799 und starb 1820 nach halbjährigem Aufenthalt in einer Jenaer Irrenanstalt.

Berthold Brecht verwendete gerne Goethe-Zitate in seinen Schulaufsätzen, die seine Ansichten zu unterstützen schienen. Nie erkannte jemand, dass Brecht diese Zitate frei erfand, da sich kein Lehrer sicher sein konnte, alle Zitate von Goethe zu kennen, und dies zugeben wollte.
BERTOLT BRECHT

Johann Wolfgang Goethe: Briefe, historisch-kritische Ausgabe, Band 7: 18. Sept. 1786 - 10. Juni 1788, hg. von Volker Giel unter Mitarbeit von Susanne Fenske und Yvonne Pietsch. Akademie Verlag. Text: 345 S., Kommentar: 673 S., geb., zus.: 198 €.

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