Von Makeln, die auch Stärken sind

Das aufrechte Interesse der Briten an den Paralympics hat Maßstäbe gesetzt

  • Ronny Blaschke, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Zehntausende haben sich durch den Olympiapark geschoben, viele hatten keines der 2,7 Millionen Tickets. Sie wollten dabei sein, irgendwie. Verfolgten die Wettkämpfe vor Leinwänden, schossen Fotos, kamen ins Gespräch. Das aufrechte Interesse der Briten hat Maßstäbe gesetzt, und mit dem Interesse kamen die Massenmedien. Der Fernsehsender Channel 4 feierte die Paralympier als »Superhumans« (Übermenschen). Selbst seriöse Zeitungen druckten doppelseitige Poster der kleinwüchsigen Schwimmerin Ellie Simmonds oder des Prothesensprinters Jonnie Peacock. Ihr Makel wurde als Stärke inszeniert. Ob diese Stärke Zukunft hat?

Die Organisatoren feiern die XIV. Sommer-Paralympics in London als die erfolgreichsten Spiele der Geschichte. »Von Anfang an gab es in unserem Organisationskomitee keine Trennung zwischen Olympia und Paralympics«, sagt Chris Holmes, Direktor der Paralympics. »Es gab nur einen gemeinsamen Weg. Diese Botschaft ist die wichtigste.« Mehr als sechzig Millionen Euro aus Lotterie- und Steuermitteln hatten die britischen Behindertensportler für ihre Vorbereitung erhalten. Ihr Lohn: 118 Medaillen, 34 in Gold, drittbestes Nationenteam, täglich bis zu elf Millionen Fernsehzuschauer.

Doch was kommt im Alltag an? 77 Prozent der behinderten Menschen in Großbritannien sind nicht sportlich aktiv. Nur fünfzig Prozent der Menschen mit einer körperlichen und zwölf Prozent der Menschen mit einer geistigen Behinderung haben einen Job. »Das Motto unserer Spiele war Enlightenment, Erhellung. Ich bin sicher, dass die Einstellung vieler Menschen sich verändert hat«, sagt Philip Craven, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). »Diese Wahrnehmung müssen wir nutzen.« Das Olympiagelände wird in einen Park umgestaltet, Sportstätten wie die Copper Box, wo das olympische Handballturnier stattgefunden hat, sollen nach der Eröffnung im Juli 2013 dem Behindertensport zur Verfügung stehen. Schon jetzt werden Pläne für paralympische Festivals diskutiert, auch Unternehmen haben behinderte Menschen als Kunden entdeckt.

Medial werden die Paralympics berechenbarer, sportlich bleiben sie eine Wundertüte. Das Klassifizierungssystem, das verschiedene Handicaps in denselben Wettkämpfen zusammenführen soll, wird geprüft. Die Diskussion um Prothesen und Rollstühle wird Sportler, Funktionäre, Wissenschaftler beschäftigen. Auch wenn Revolutionen nicht zu erwarten seien, sagt Rüdiger Herzog von Otto Bock, dem Weltmarktführer in Prothetik und Organisator der Paralympics-Werkstätten seit 1988. Bei vielen seiner Kollegen ist Erleichterung zu spüren, dass auch der Prothesenläufer Oscar Pistorius schlagbar ist. Der Südafrikaner, der auch bei Olympia gestartet war, gewann bei den Paralympics nur zwei von vier Wettbewerben

Trainingsmethodisch ist der paralympische Sport noch nicht ausgereizt, auch 2016 in Rio dürften wieder viele Rekorde fallen.

Es gibt wenige Konstanten: Die Chinesen zehren von ihrer Vorbereitung auf die Spiele 2008 in Peking. Damals hatte sich das Zentralkomitee erstmals seit 1949 mit behinderten Menschen befasst. Rampen und Fahrstühle wurden gebaut, Vorurteile in der Gesellschaft schwanden. Inzwischen steht ein riesiger Apparat für paralympische Medaillenproduktion. Die Konsequenz: Platz eins im Medaillenspiegel mit großem Abstand wie 2008.

Dass politische Fürsprecher wichtig sind, beweist Valeriy Sushkevich. Er ist Mitglied des ukrainischen Parlaments, war früher selbst als Schwimmer bei Paralympics. Inzwischen sichert er den ukrainischen Paralympiern Strukturen, die zu den besten gehören. 2008 belegten die Ukrainer Platz vier in der Nationenwertung, in London Platz fünf. Die ukrainischen Paralympier repräsentieren mit ihrem Erfolg dennoch nicht die Integration behinderter Menschen in ihrem Heimatland.

So ähnlich stellt sich die Lage auch beim großen Nachbarn dar, wo die nächsten Paralympics stattfinden, im Winter 2014 in Sotschi. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums leben in Russland mehr als 13 Millionen Menschen mit Behinderung. 77 Prozent der arbeitsfähigen Menschen mit Behinderung haben keinen Job, in Deutschland liegt dieser Anteil bei 15 Prozent. Viele verlassen in Russland kaum ihre Wohnungen, im Nahverkehr oder in Schulen gibt es selten Barrierefreiheit. »Es gibt strenge Rekrutierungsprogramme«, sagt Karl Quade, deutscher Chef de Mission . »Die politische Elite nutzt das Rampenlicht der Sportler für sich.«

Ende der 80er Jahre durften Kriegsversehrte erstmals im Fernsehen auftreten. Doch auch danach blieb die staatliche Förderung auf niedrigem Niveau. Werden die Paralympics die Wahrnehmung ändern? Eine Delegation aus Sotschi hat sich in London von den neuen Maßstäben ein Bild gemacht. Die Russen werden diese Stimmung in den Bergen nicht überbieten können. Aber zumindest ihre eigene Wahrnehmung von Menschen mit Makeln. Von Makeln, die auch Stärken sind.

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