Kreativ im Kampf gegen die Krise
Vom Verlust des Arbeitsplatzes lassen sich viele Portugiesen nicht unterkriegen
Sonntagnachmittag am böigen Strand von Porto. Dicht an dicht stehen die Autos vor der Strandpromenade. Was wie ein wilder Parkplatz aussieht, ist Naherholung auf portugiesisch. In allen Autos sitzen Paare im mittleren Alter. Sie hören Radio, essen Butterbrote und schauen dabei aufs Meer. »Das ist die portugiesische Krisen-Version einer Villa mit Aussicht«, erklärt Filipa Miranda und lacht.
Sie selbst kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt sonntags ausruhen konnte. Die ausgebildete Hotelfachfrau mit einem abgebrochenen Architekturstudium arbeitet schon seit Jahren in zwei Jobs: Tagsüber als Lektorin in einem Architekturverlag, abends in einer traditionellen portugiesischen Tapas-Bar. »Ich habe gefühlt, dass Portugal durch den Euro irgendwann in Schwierigkeiten kommen wird. Da ist es besser, vorzusorgen.« Wie Recht sie damit hatte, erfuhr die 41-jährige Ende April, als der Verlag sie entlassen musste. Anders als ihre Kollegen braucht sie sich jetzt keine Gedanken zu machen, wie sie die nächste Miete oder Kreditrate bezahlen soll.
Über 15 Prozent beträgt die offizielle Arbeitslosenquote in Portugal derzeit. Doch das sei nur die Spitze des Eisbergs, ist Filipa Miranda überzeugt. Vor allem junge Leute ohne Berufserfahrung tauchten in der Statistik kaum auf. »Viele ziehen nach dem Ende des Studiums einfach wieder bei den Eltern ein. Die suchen nach einer Lösung für ihr Problem, nicht nach einer Gelegenheit, beim Amt Schlange zu stehen.« Für viele Portugiesen sei die Selbständigkeit der logische Schritt bei Arbeitslosigkeit, sagt Filipa Miranda. Der Mut der Verzweiflung gehöre zur nationalen Identität.
Auch sie baute sich schon vor ihrer Entlassung ein drittes Standbein auf: Architourism heißt Filipa Mirandas Start-Up, das Touren rund um Architektur in Porto und Nordportugal anbietet. Eine Geschäftsidee, die in einer Stadt mit zwei Pritzker-Preisträgern (dem weltweit renommiertesten Preis für Architektur) und jeder Menge Individualtouristen Erfolg verspricht. Den Job im Restaurant will Miranda dennoch nicht aufgeben, auch wenn die späten Arbeitszeiten schlauchen. Sie komme dabei auf immer neue Ideen. »Wir Portugiesen sind gut darin, uns etwas einfallen zu lassen. Krisen gehören zu unserer Geschichte dazu.«
Das würde Fernando Sousa sofort unterschreiben. Der ehemaliger Textilfabrikant aus Guimarães stieg nach seinem Konkurs vor einem Jahr ins Reiseunternehmen seiner Frau ein. Spätestens zur Finanzkrise 2008 ahnte der Mittfünfziger, dass er nach einer beruflichen Alternative suchen muss. Die Textilindustrie, für die Fernando Sousas Heimatstadt einst berühmt war, erlebte einen rasanten Niedergang. In den vergangenen fünf Jahren seien zehn Prozent der Stellen in der Bekleidungsindustrie weggefallen, konstatiert Carlos Teixeira, Präsident der lokalen Industrie- und Handelskammer. Leute wie Fernando Sousa, die mit doppeltem Salto einen Neuanfang in einer anderen Branche wagen, sind rar in seinem Verband.
Der polyglotte Sousa ist jedenfalls überzeugt, dass die Krise positive Energien freisetzt und in den Köpfen seiner Landsleute etwas verändern wird. »Wir müssen flexibel sein und etwas aus dem machen, was wir haben. Nur so besteht eine Chance für uns als Nation.« Dass Guimarães im Jahr 2012 Kulturhauptstadt Europas ist, gibt dem frischgebackenen Reiseunternehmer zusätzlich Schwung. Einfach nur Busse mit Touristen zu beladen sei heutzutage kein tragfähiges Konzept, sagt Sousa. Er hat deshalb auch seine Tochter mit ins Boot geholt. Die Grafikdesignerin gestaltet für das hauseigene Souvenirgeschäft geschmackvolle Andenken, die alte portugiesische Motive modern interpretieren. Bei den anspruchsvollen Touristen im Kulturhauptstadtjahr kommt das gut an.
Der Bürgermeister von Guimarães, António Magalhães da Silva, Mitglied der Partido Socialista, unterstützt deshalb vor allem Projekte, die langfristig die vorhandene Infrastruktur mit neuem Leben füllen. So verwandeln sich alte Textilfabriken in Kulturzentren oder in Bildungsanstalten. Das 2011 gegründete Institute of Design bietet für Postgraduierte in Portugal einmalige Programme an, wie den Master of Digital Arts. Das erst im April eröffnete FindLab des Instituts experimentiert mit digitalem Design und computergestützter Herstellung. Entwickelt werden unter anderem neuartige Baustoffe, wie farbloser Estrich.
Bürgermeister António Magalhães da Silva sieht in neuen Technologien die einzige Möglichkeit, seiner Stadt im globalen Wettbewerb das Überleben zu sichern. »Wir exportieren heute mehr, nur mit weniger Leuten. Nur neue Technologien schaffen Arbeitsplätze.« Seine Politik scheint aufzugehen. Aktuell liegt die Arbeitslosenquote in Guimarães bei rund 14 Prozent und damit mehr als einen Prozentpunkt niedriger als im Rest des Landes. Noch 2009 waren es über 18 Prozent. In den vergangenen zwölf Monaten wurden rund 4500 neue Jobs in der Region geschaffen.
Auf einen dieser Jobs hofft auch Gualter Neto Pinhero. Der 34-Jährige steht auf dem Platz vor der Kirche Unserer Jungfrau vom Olivenbaum, dem Ort, wo der Aufstieg Portugals zu einer Handels- und Seemacht einst begann. In Guimarães wurde um 1109 der erste König des Landes, Alfons I., geboren. Er war es, der später die muslimischen Mauren im Süden besiegte und Portugal in einem unabhängigen katholischen Reich einte. Für viele Portugiesen ist die Stadt deshalb das Herz ihres Landes - das Herz steht in stilisierter Form deshalb auch als Symbol der Kulturhauptstadt. Viele Ladenbesitzer zeigen damit verzierte Produkte in ihren Schaufenstern. Die individuelle Note kommt an beim Kulturreisepublikum. Mit insgesamt einer Million Besuchern rechnet die Stadt in diesem Jahr.
Guelter Neto Pinhero konnte von diesem Touristenboom bislang nicht profitieren. Weil er lange im Ausland gelebt hat, bekommt er nur minimale Sozialhilfe: Gerade mal 138 Euro im Monat. 115 Euro davon bezahlt er für sein Zimmer zur Untermiete. Seine Freundin ist hochschwanger. Deshalb verteilt er vor der Kirche Handzettel mit seinem Lebenslauf. »Ich nehme jede Arbeit an, das schulde ich meinem Kind.« Er besitzt eine kaufmännische Ausbildung, arbeitete beim Bodenpersonal am Flughafen Orly und als Helfer auf Schweizer Baustellen. Doch wegen des Kindes ging er zurück in die Heimatstadt seines Vaters. Seine Erkenntnisse nach vier Monate klingen bitter: »Arbeit findet hier nur, wer Freunde an den richtigen Stellen hat. Das ist in Portugal offenbar immer noch so.«
Diese Erfahrung teilt auch Xie Jing, die vor zwei Jahren einen portugiesischen Fotografen geheiratet hat und für ihn aus der Millionenmetropole Shanghai ins vergleichsweise beschauliche Lissabon umzog. Die 34-jährige Theaterautorin schreibt Drehbücher für chinesische Seifenopern. Um in der neuen Heimat Fuß zu fassen, suchte sie vor Ort mehr als ein Jahr nach einem Nebenjob. Inzwischen unterrichtet sie an einer chinesischer Schule die Kinder chinesischer Unternehmer in ihrer Muttersprache und Nationalkultur. Derzeit sind etwa 20 000 Chinesen offiziell in Portugal gemeldet, auch wenn viele Portugiesen überzeugt sind, es seien zehnmal mehr. »China-Haus« steht auf portugiesisch für einen Laden mit Haushaltswaren und Textilien, auch wenn die Eltern von Xie Jings Schülern längst in lukrativere Branchen investieren. Und zwar in ganz Europa. »Wirtschaftlich lohnt es sich in anderen EU-Ländern immer noch mehr«, sagt Xie Jing.
Sie selbst profitiert von Chinas Durchmarsch auf unerwartete Weise. »Junge Portugiesen haben unsere Schule förmlich überrannt. Alle wollen sich rüsten, wenn die Chinesen kommen.« Xie Jing unterrichtet deshalb inzwischen auch Erwachsene in Mandarin und Landeskultur. Dass sie die Kurse nur auf Englisch halten kann, weil sie nur wenig Portugiesisch spricht, ist dabei kein Hindernis. Im Gegenteil. »Viele glauben, so zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Denn die meisten wollen auswandern. Auch in Kanada und in den USA gibt es mehr als genug Chinesen.« Die Krise Portugals bringt viel Arbeit für Xie Jing.
Portugal musste 2011 Finanzhilfen bei den internationalen Partnern beantragen. Seitdem ist die Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und EU-Kommission auch in der Hauptstadt Lissabon regelmäßiger Gast. Dem Land wurden bislang Hilfen von 78 Milliarden Euro gewährt.
Siehe Grafik: Zahlen und Fakten zur Eurozone
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