Marx ging vor L. A. über Bord
Adelbert Reif im Gespräch mit dem Brecht-Biografen Jan Knopf
Prof. Knopf: Wir leben in einer Zeit des Befindlichkeitsindividualismus. Gegen den möchte ich dieses Buch stellen. Mein Schwerpunkt ist der Künstler Brecht, ein kritischer Mensch, der politische Kunst gemacht hat, aber keine ideologische. Brecht sagte immer wieder, die eigentliche Realität sei in die Funktionale gerutscht. Man müsse etwas künstlich mit ästhetischen Mitteln aufbauen, um zu zeigen, wie es wirklich aussehe. Er versuchte, sich als gesellschaftlich relevante Stimme einzubringen und dennoch Kunst zu machen.
Es gibt zahlreiche Biografien ...
Die erste große Brecht-Biografie stammt von dem Theaterhistoriker Klaus Völker. Durch die Faktenlage ist sie allerdings überholt. Eine zweite Biografie wurde in den achtziger Jahren parallel zur großen Werkausgabe von Werner Mittenzwei in der DDR verfasst. Mittenzwei ging bei seiner Arbeit ideologisch vor. Er folgte einem Entwicklungsschema: Brecht, der Bürgersohn, der aufbegehrende junge Mann und Kritiker seiner Herkunft, die vulgärmarxistische Phase und »Die Mutter« als das erste marxistische Stück, das Brecht selbst als klassisch einstufte. Die DDR-Zeit dann als Höhepunkt in seinem Schaffen. Dieses Schema bedeutete, übertragen auf den Westen, dass man sich dort mehr für den Dichter als den politischen Brecht interessierte. Wobei es auch immer wieder Versuche gab, wie in der Biografie von John Fuegi, ihn als Menschen zu denunzieren. Dabei hatte Fuegi zwei Thesen, die er zu beweisen suchte. Die eine war »Sex for text«, dass Frauen für Brecht die Werke geschrieben hätten und er sie mit Sex entlohnt hätte. Die zweite war Brecht als Partei-Ideologe. Aber er ist nie einer Partei beigetreten. Das passte einfach nicht zu ihm.
Und die These »Sex for text«?
Die Ausbeutung, die Brecht angedichtet wurde, fand so nicht statt. Er sorgte dafür, dass seine Mitarbeiterinnen bezahlt wurden.
Das Gerücht, dass Brecht bei anderen abschrieb, hielt sich aber über Jahrzehnte hartnäckig …
In der Tat merkwürdig. Dagegen gibt es jetzt die Tendenz, dass man lauter Werke von anderen entdeckt, hinter denen Brecht steckt. Erwin Strittmatter hat Brecht sein erstes Stück »Katzgraben« zugesandt, der arbeitete es mindestens zur Hälfte um. Ich konnte es nicht glauben, als ich die Originale sah. Brecht brachte den Text in eine sprachlich haltbare Form - mit viel Witz, über den Strittmatter nicht verfügte. Aber er reklamierte nie etwas für sich an dem Stück ...
Sie wollten was richtig stellen ...
Zum Beispiel Brechts Verhalten gegenüber Margarete Steffin, die er 1931 bei der Arbeit an der Roten Revue »Wir sind ja sooo zufrieden« kennenlernte. Bisher hieß es, Brecht habe die TBC-kranke Steffin einfach in Moskau zurückgelassen. Aber er wäre beinahe im Gulag gelandet, weil er so lange auf das Ausreisevisum von Steffin gewartet hatte. 1941 bekam er den letzten Zug von Moskau nach Wladiwostok und das letzte Schiff in die Vereinigten Staaten. Ein Detail: In Wladiwostok kaufte er Schriften von Marx, die er auf der Überfahrt las. Als das Schiff im Hafen von Los Angeles einfuhr, warf er die Bücher über Bord. Egon Breiner interpretierte das als Feigheit und meinte, man müsse stehen zu dem, an das man glaube. Brecht hat aber an nichts geglaubt und rein taktisch gehandelt; das möchte ich deutlich machen.
Warum blieb Brecht nicht in der Sowjetunion?
Vieles spricht dafür, dass man seine Emigration in die USA unterstützte, um ihn los zu haben. Keine Ahnung, ob die Entscheidung nicht sogar von Stalin selbst kam.
Unter welchen Aspekten haben Sie Brechts künstlerische Entwicklung analysiert?
Im Unterschied zu anderen Untersuchungen gibt es bei mir den Begriff der Entwicklung nicht. Ich beschreibe das Leben über das Werk. Ich möchte zeigen, wie er durch die Welt getrieben wurde, sich als Medium verstand, durch das die Wirklichkeit zu ihrer Sprache kommt. Ich fand wunderbare Stellen von bisher relativ unbekannten Beobachtern Brechts: Er sei sehr zurückhaltend gewesen. Aber wenn er in Fahrt gekommen sei, habe er eine große Show abgezogen. So verknüpft sich das Werk mit dem Leben.
Dabei hat er sich ja auch immer selbst vermarkten müssen ...
Er hat früh lernen müssen, sich anzupassen, um gedruckt zu werden und sich bekannt zu machen. Seine Gegnerschaft zu Thomas Mann war eine solche Inszenierung. Brecht wusste, dass er ihn nicht auf seine Seite bekommen konnte. Also baute er ihn als seinen Gegner auf. Er schalt ihn öffentlich, zum Teil ungerecht und rüpelhaft. Aber Thomas Mann reagierte immer wieder auf diese Angriffe. Feuchtwanger bearbeitete er ganz massiv, um ihn auf seine Seite zu bringen, doch der blieb beim distanzierten »Sie«. In früheren Biografien werden diese Beziehungen mit Neid und Hass erklärt. Aber dahinter stand ein taktisches Manöver. Grundsätzlich hat Brecht erkannt, dass der Mensch auch in der Wirklichkeit Rollen übernimmt. In seinen Lehrstücken erhebt er diese Erkenntnis zum Prinzip. Die Menschen sollen ihre sozialen Rollen spielend durchschauen lernen.
Konnten Sie DDR-Unterlagen einsehen? Fanden Sie etwas über Beziehungen zur Stasi heraus?
Das wurde von Werner Hecht, der auch die verdienstvolle »Brecht-Chronik« vorlegte, in den letzten Jahren ausgiebig recherchiert. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Brecht immer irgendwo auf der Abschussliste stand. Erich Mielke zählte ihn zu »diesen Brüdern«, die eine »Politik der Verleumdung und des Betrugs« betrieben hätten. Wilhelm Girnus, bis 1953 Redakteur des »Neuen Deutschland«, wurde von Walter Ulbricht persönlich als Spitzel für Brecht ausersehen. Brecht aber hatte einen österreichischen Pass und war nicht wirklich angreifbar. Selbst die Übergabe des Theaters am Schiffbauerdamm an Brecht stand auf des Messers Schneide.
Hat Brecht politisch etwas unternommen?
Er plädierte dafür, kein Held zu sein. Man könne von ihm nicht verlangen, dass er heroisch seine Meinung vertrete. Wenn es ihm an den Kragen gehe, verleugne er diese sofort. Auch betonte er, ein ganzes Arsenal von Meinungen zu haben. Er hatte einen ambivalenten Blick auf sich selbst: Weiß ich wirklich, wer ich bin? Wie viel von mir ist gesellschaftlich vermittelt?
Wie verhielt er sich während seiner Zeit am Berliner Ensemble?
Für seinen Schüler Martin Pohl setzte er sich ein, hatte auch Erfolg. Aber das war einer der wenigen Fälle. Bei den von Stalin internierten Leuten wie Carola Neher, um die er sich auch bemühte, war es eher ein Nachfragen. Woran er immer beteiligt war: Aktionen, wenn jemand Geld brauchte. In FBI-Akten wunderte man sich, dass die Weigel nach dem Krieg Care-Pakete verschickte. Man mutmaßte politische Botschaften. Es war aber nur materielle Hilfe.
Hatte Brecht eine Haltung zum Stalinismus?
Es ist nachweisbar, dass er den stalinistischen Terror zur Kenntnis nahm und verurteilte. Man weiß aber nicht, wie weit er ihn im Hinblick auf den Aufbau eines Sozialismus, den er als einzige Möglichkeit für die Zukunft sah, für unvermeidbar hielt. Möglich, dass er aufgrund der weltpolitischen Alternative - Hitler oder Stalin - Stalin auch mit Terrormaßnahmen in Kauf zu nehmen bereit war. Ich weiß nicht, wie weit bei einem entschiedenen DDR-Kritiker ein Satz wie »Mir ist am Ende ein befohlener Sozialismus lieber als keiner« ernst zu nehmen ist. Gegen diesen Satz stehen viele andere, kritische Äußerungen Brechts, so seine Warnung, dass ein Sozialismus nicht gelingen könne, wenn er nicht von unten aufgebaut werde.
Entsteht durch Ihre Biografie ein neues Brecht-Bild?
Ich rede nicht gern von einem Brecht-Bild. Denn das geht in Richtung Weltbild, das gegenüber den Realitäten immer zu mickrig ist. Ich möchte Widersprüche, um es mit Brecht zu sagen, als Hoffnungen herausstellen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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