Seit dem 21. September 2001 wird Said Bahaji gesucht. Es scheint keine Spur zu geben, nicht einmal ein Lebenszeichen. Die Ungewissheit nimmt seiner Mutter die Kräfte. Mit ihr sprach RENÉ HEILIG.
Sagen Sie's ruhig. Alle sagen es doch. In den Zeitungen steht es in dicken Balken: Ich bin die Mutter eines Terroristen...!« Die Frau lacht, das Lachen verliert sich in leeren Räumen. Das lässt sie erschrecken. Ihre Ironie findet keinen Widerhall. Die Frau sinkt in sich zusammen. Erschöpft. Dann springt sie plötzlich auf, weil sie ihrem Gast doch einen Kaffee versprochen hatte. Es klappert in der Küche, sie trägt Tassen herein, fragt, ob Milch und Zucker nötig wären. Die Kerze unter der Warmhalteplatte mag nicht brennen. Entschuldigend merkt sie beim Einschenken an, sie habe den Kaffee nicht so stark gemacht. Sie schlafe schlecht, immer sei da so ein Gefühl, als müsse er an der Tür stehen oder zumindest anrufen, sagen, dass er lebt... Er, das ist Said Bahaji, Student der Elektronik an der TU Hamburg-Harburg. Bahaji ist flüchtig - im besten aller schlimmen Fälle.
Die Mutter nennt ihn zärtlich »Saidchen«.Welch Name für einen Mann, der verdächtigt wird, »Chef-Logistiker« von Massenmördern zu sein. War er das? »Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass er sich nichts zuschulden kommen ließ!« Nun klingt die Stimme der Frau erstaunlich fest, Widerspruch? Keine Chance. Und womit sollte man widersprechen? Damit, dass der Generalbundesanwalt einen Haftbefehl gegen Said Bahaji ausgestellt hat? Der Student Bahaji soll als Mieter des Hamburger »Terroristennestes«, Passbesorger und Bankier jene unterstützt haben, die Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers gelenkt und Tausende unschuldige, ahnungslose Menschen grausam umgebracht haben.
Anneliese Bahaji berichtet aus längst vergangenen Jahren, wechselt in eine andere Welt. Nach Haselünne, das Kaff liegt irgendwo im deutschen Emsland, dort hat sie ihn zur Welt gebracht. Vor 27 Jahren. Damals endete aber auch das selbstbestimmte Leben der Frau. Am Ende des Krieges ist sie mit ihrer Mutter und den vier Brüdern aus dem brennenden Danzig nach Schwerin und dann weiter nach Westdeutschland geflohen. Der norddeutsche Tonfall ist ihr geblieben. Nach dem Studium in Neumünster hat sie als Modefrau eigene Kollektionen entworfen. Jumper und Kleider, später Jeans in Variationen. Man ahnt, sie war eine Dame, wie sie die Wirtschaftswunderzeit schuf. Sie pendelte zwischen Modemessen in Paris, London, Düsseldorf. Kaum werden ihre Erzählungen lustvoll flüssig, zupft sie nervös ihr Haartuch zurecht: »Saidchen...« Ja, bei ihm hatte sie etwas Sorge vor der Geburt, denn immerhin war sie schon über 40. Doch der Junge habe ihr niemals Probleme bereitet. Gedanklich in der heilen Welt, stellt sie das »Niemals« nicht einen Augenblick in Frage. Sie berichtet, wie Said, der vom Vater her ein Moslem war, in einen katholischen Kindergarten ging. Und wie er sein erstes Fahrrad bekam. »Oh war das ein Fest.« 1984, Said ging gerade in die vierte Klasse, »wollte mein Mann nach Marokko zurück. Er hatte dort eine kleine Landwirtschaft.« Der Sohn und seine Schwester mussten noch einmal mit der ersten Klasse beginnen, denn Arabisch und Französisch waren ihnen bis dahin so gut wie unbekannt. »Said schaffte das glänzend. Auch im Gymnasium lief alles. Strahlend bestand er sein »Bac« - man sagt hier Abi - und schrieb sich bei der Militärakademie ein. Doch bei der medizinischen Prüfung sei er ausgemustert worden. Anneliese Bahaji weiß nicht genau, ob's damals die Beine waren oder schon das Asthma oder die Allergien, die der Steckbrief sogar erwähnt. Woher die Fahnder davon wissen? »Vermutlich haben sie seine Bundeswehrakte studiert.«
Bundeswehr? Ja, da sei er auch gewesen, denn nach der Absage an Marokkos Militärkaderschmiede entschlossen sich die Bahaji-Kinder nach Deutschland zu gehen, um zu studieren. »Die Hochschulen haben einen soliden Ruf in der Welt und da meine Kinder beide einen deutschen Pass besitzen, hatten sie auch die Chance, BAFöG zu erhalten.« Said begann an der TU in Hamburg-Harburg zu studieren. Als er im fünften Semester war, kam die Einberufung. Doch der Dienst im deutschen Rock blieb ein kurzes Intermezzo. Kein Schweinefleisch und dafür fünf Mal am Tag beten ist nicht ganz die Norm der Bundeswehr. Kurzum, die Mutter holte ihn aus der Truppe, mit aus Marokko abgesandten Leserbriefen, die bei »Bild« und »Spiegel« Beachtung fanden.
Das war die Zeit, da Mohammed Atta, der angebliche Kopf der islamistischen Todesflieger, in Said Bahajis Leben trat. Die Mutter erklärt das Zusammentreffen so: Weil Soldat Said aus dem Studentenwohnheim musste, nahm er sich mit anderen eine kleine Wohnung. Die anderen, das waren Atta und der angebliche Spießgeselle Ramzi Binalshibh. »Wohin schließlich sollte mein Sohn seine Sachen tun?« Doch bereits nach einem Vierteljahr habe er sich urplötzlich mit Heiratsgedanken getragen. Eine junge Türkin mit deutschem Pass hatte es ihm angetan. Bei der »offenen Hochzeit«, bei der Männer und Frauen nach alt-arabischem Ritual getrennt feiern, sei sie als Mutter dabei gewesen. Doch ihren Sohn habe sie nur auf dem deutschen Standesamt gesehen. Eine Erinnerung an Atta oder Binalshibh habe sie nicht. Man merkt, das Thema behagt Anneliese Bahaji nicht, es ist eines aus der garstigen Welt. Sie spricht viel lieber vom Enkelchen, der Junge ist im März 2001 auf die Welt gekommen. Sie zeigt Fotos aus Marokko, sie wurden vor Wochen erst gemacht. Der Kleine ist festlich angetan. Noch soll er nichts wissen von der Not der Mutter, die, weil sie im Liebesglück nicht einmal ihre Schule beendet hatte, nun von Sozialhilfe und der Gunst ihrer Eltern leben muss. Schon gar nichts weiß der Junge vom Vater. Was auch, dass der acht Tage vor dem Attentat von New York verschwunden ist? Angeblich sei er zu einem Praktikum nach Pakistan geflogen. Was alle, auch die Mutter sehr gewundert hat, schließlich hatte er zuvor immer davon gesprochen, sein Wissen in den USA zu komplettieren.
Allein dass sie erzählt, was Terror-Verdacht nähren könnte, lässt sie wieder unruhig werden. Erneut drückt sie sich in die Sofaecke. »Sagen Sie selbst«, fordert sie den Zuhörer auf: »Ein junger Mann, Familienvater, der am Anfang seiner Karriere steht, soll urplötzlich alles lassen, was ihm lieb und teuer ist, um so viele ihm völlig unbekannte Menschen umzubringen?!« Nein! Seine moralischen Grundsätze seien viel zu hoch gewesen, als dass er auch nur auf so eine Idee gekommen wäre... Sagt die Mutter und als ob sie etwas beweisen könnte, zeigt sie eine Mail vom Sohn. In der er am 17. Juli schrieb, »wenn es klappt, mache ich demnächst ein Auslandspraktikum...« Dann bat er, die Mutter möge ihm die Papiere für den fälligen BAFöG-Antrag besorgen. »Sollte er mich so belogen haben?« Wieder beantwortet sie ihre Frage selbst: »Nie...!« Auch die Mail-Passage, er habe noch viele Klausuren zu schreiben, hoffe aber, spätestens im nächsten Semester fertig zu sein, »dann nähert sich alles dem Ende«, begründet keinen Verdacht. Die Frau hebt die Stimme, der Ton wird schärfer. Sie schaut aufgeregt, läuft schnell zum Anrufbeantworter: »Da, hören Sie, das ist seine Stimme...« Da hat er mich aus Pakistan angerufen.« Der Apparat gibt nur ein knappes »Hallo« und dann noch einmal das Fünf-Buchstaben-Wort her. Später habe sich »jemand« gemeldet, weil er wisse, dass Said Bahaji als Kaufmann nach Bahrain gegangen sei. Ein ihr gut bekannter amerikanischer Journalist hat angeblich Spuren vom Sohn in Pakistan gefunden. Und sie selbst habe in Marokko einen Anruf bekommen. In gebrochenem Deutsch wurden »viele liebe Grüße« bestellt. Dann nichts mehr, logisch, denn unsere Telefone werden überall abgehört. In Deutschland geht das diskreter als in Marokko. Obwohl sie schon erstaunt war, dass die deutsche Polizei ursprünglich weder von ihr noch von anderen Verwandten etwas über Said wissen wollte. Ihr Bruder, der ganz in der Nähe wohne, habe das Bundeskriminalamt angerufen, als die Pressemeute ihr fast die Balkontür eingedrückt hat. »Die von Spiegel-TV boten mir großzügigst an, ich könne allen anderen sagen, dass ich einen Exklusiv-Vertrag mit ihnen geschlossen hätte.« Einer von »Bild« sei mit Blumen aufgekreuzt. »Was sind das nur für Menschen?!«
Irgendwann erschienen dann ein Herr Dammbier und später ein Herr Hengst, beide vom BKA. Tags darauf wurden Mutter, Schwester und Onkel stundenlang verhört. Kein Mensch habe sie nach der islamisch-extremistischen, antiwestlichen Gesinnung gefragt, die ihren Sohn angeblich geleitet habe. So etwas hält sie auch jetzt für aberwitzig. Obwohl sie so viel grübelt, zweifelt, sich ihrer Zweifel schämt und umso fester an die Unschuld ihres Jungen glaubt. Vielleicht ist es auch die Freundschaft zu Mounir al Motassadek, einem gleichfalls marokkanischen Studenten, die ihren Said in Verdacht geraten ließ. Mounir stand am gestrigen Dienstag zum ersten Mal vor seinem Richter in Hamburg. Oder Ramzi Binalshibh hat ihn reingerissen. Als der - gleichfalls als Cheflogistiker bezeichnete Jemenit - von FBI-Leuten in Pakistan verhaftet wurde, sei ihr das schwache Herz fast stehen geblieben. Pakistan, dahin reiste auch ihr Sohn... Jetzt sitzt Binalshibh irgendwo auf der Welt in einem Käfig und wartet vermutlich auf den Tod. »Verstehen Sie denn wirklich nicht, warum mein Sohn sich nicht bei mir melden kann?! Vielleicht, so denkt sie heimlich weiter, geriet er in Afghanistan in den Krieg hinein, vielleicht traf ihn eine Bombe oder er versteckt sich in den Bergen, womöglich bei Al-Qaida-Leuten.
Hunderte, tausende Varianten hat sie durchdacht... Sie habe erwogen, über den arabischen Fernsehsender Al Dschasira einen Aufruf »loszulassen«. Doch die Journalisten lehnten ab. Dann fragte sie bei der deutschen Botschaft in Pakistan, ob sie ihren Sohn schützen würden, wenn er sich bei den Diplomaten meldet. Dass ihre Tochter auf eigene Faust nach Pakistan fährt, um den Bruder zu suchen, hat sie »Gott sei Dank abgebogen«. Welch Irrsinn, eine junge Frau allein in mordgeplagten Pakistan?!
Anneliese Bahaji lebt, wenn Arzttermine - zwischen denen die Abstände immer kürzer werden-, anstehen, in einer kleinen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen. Hier spürt sie nichts von der Vorverurteilung, mit der man dem mutmaßlichen Terroristen, den sie geboren hat, weithin begegnet. Doch auch ehrlichste Gesten können unausgesprochen Argwohn andeuten. Jüngst hatte die Gemeindeschwester erneut angeboten: »Frau Bahaji, wenn sie nicht einkaufen gehen wollen, würde ich ihnen gern das Notwendige besorgen...«