Die Kinder sind wohl und machen viel Lärm, Heinerli spricht schon ein wenig und ist arg drollig ...
Hermann Hesse 1910 an seinen Vater
Dieser Mann sieht aus wie sein Vater. Auch seine Stimme klingt so, wie man sie von alten Ton-Aufnahmen kennt. Melodiös mit leichten Heiserkeitskratzern. Sitze ich hier, hoch über dem Lago Maggiore, Hermann Hesse gegenüber? Nein, seinem Sohn Heiner Hesse, dreiundneunzig Jahre alt. Ihm sehr ähnlich. Einer, der den Eigensinn seines Vaters zur Lebensmaxime erhoben hat. Ob ihm mein Besuch auch recht sei, hatte ich vor meiner Abreise telefonisch noch einmal nachgefragt. Ja sicher, antwortete er, wenn er dann noch lebe, wolle er gern mit mir über seinen Vater reden. Es klang weder ironisch noch pathetisch, sondern sehr sachlich. Unten am See liegt Ascona. Obwohl schon Mitte November, ist hier fast noch Sommer. Die Straßencafés sind voll, man wechselt gern mitten im Satz zwischen dem Italienischen und Deutschen hin und her.
Die italienische Schweiz, das Tessin, ist ein seltsames Amalgam zwischen eidgenössischer Sprödigkeit und italienischem Laissez-faire. Oben in den Bergen aber ist es plötzlich wieder ganz nördlich. Wald, Mühle - das ist wie bei den deutschen Romantikern. Und ich fühle mich, wie sich wohl Hermann Hesse vor fast hundert Jahren gefühlt haben mag, als er den heute fast vergessenen uralten Schriftsteller Wilhelm Raabe in Braunschweig besuchte, um sich nach Eduard Mörike und einer weit zurückliegenden Zeit zu erkundigen - und Raabe winkte bloß ab: Ach, wissen Sie, dieser Mörike ... Raabe mochte ihn nicht.
Mochte Heiner Hesse seinen Vater? Wo man in ihm lebenslang vor allem den Sohn des weltberühmten Autoren gesehen hat? Die Thomas-Mann-Kinder haben über ihr Verhältnis zum Vater immer wieder gesprochen, die drei Hesse-Söhne aber schwiegen. Sie folgten eher ihrer Mutter Maria Bernoulli (der ersten von drei Hesse-Frauen), sind Maler (der ältere Bruder Bruno) und Fotografen (der jüngere Bruder Martin) geworden, oder wurden wie der rebellische Heiner Hesse ganz unspektakulär Schaufenstergestalter. Mit den beiden jüngsten Thomas-Mann-Kindern war Heiner Hesse befreundet. Michael nahm sich später das Leben, aber Elisabeth hat ihn im letzten Herbst, kurz vor ihrem plötzlichen Tod beim Skiurlaub in Sankt Moritz, noch besucht. An Elisabeth hat er bewundert, wie sie so ganz ihren eigenen Weg gegangen ist, mit welcher Kraft sie aus dem Schatten fremder Größe herausgetreten ist. Väterliche Größe, die scheinbar alle Wege ebnet, in Wirklichkeit aber daran hindert, den eigenen Weg überhaupt zu suchen. Den eigenen Weg finden - ist Heiner Hesse das gelungen?
An der Glastür seiner berghüttenähnlichen Mühle hängt ein Schreibblock, auf dem mit energischer Hand in großen Buchstaben geschrieben steht, wer hier wohnt. Das ist das Türschild, daneben ein Stift, der einlädt, bei Abwesenheit des Waldmenschen eine Nachricht zu hinterlassen. Aber Heiner Hesse verlässt seine Mühle nicht mehr. Er hat ein Lungenemphysem, kann nicht mehr als ein paar Schritte gehen, die Luft bleibt ihm beim Sprechen weg, er muss immer wieder lange Pausen machen. Trotzdem lebt er hier allein. Um ihn herum ist das Rauschen des Baches, der unter dem Haus hinweg fließt. Panta rhei, alles fließt. Heiner Hesse mag das Symbolische dieses Ortes.
Ich bin immer schon ein Einsiedler gewesen, sagt er. Und doch beobachtet er von seinem Lehnstuhl am Fenster genau, was sich um das Werk seines Vaters herum bewegt. Er liest jeden Text, der zu Hermann Hesse erscheint. Fast jeden Nachmittag telefoniert er mit dem Hesse-Herausgeber Volker Michels bei Suhrkamp.
Als Hermann Hesse 1962 starb, war sein Sohn Heiner schon Mitte fünfzig. Kein Kind mehr. Und doch hatte gerade das Kind Heiner allen Grund gehabt, seinen Vater zu hassen. Zu Hass aber scheint dieser hagere Mann mit dem Vogelgesicht gänzlich unbegabt. »Er war kein Rabenvater.« Es klingt nachdrücklich. Vieles habe er damals nicht verstanden. Natürlich gab er damals als Kind seinem Vater die Schuld am Scheitern der Ehe mit seiner Mutter. Schlimmer noch: an deren Zwangs-Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Schreckliche Szenen. Hesse hatte damals gerade die Psychoanalyse entdeckt, stand mit C.G. Jung in Kontakt. Hier in Ascona gab es einen deutschen Psychiater, sagt Heiner Hesse, zu dem musste meine Mutter, die unter schweren Depressionen litt, auf Drängen meines Vaters gehen. Das Ergebnis dieser »Analyse« war, dass sie einen totalen Aggressionsausbruch bekam und versuchte, ihren jüngsten Sohn Martin zu erwürgen. Daraufhin betrieb Hermann Hesse die Einweisung in eine geschlossene Anstalt und entzog seiner Frau die Kinder.
Martin, der Jüngste, war immer der Zankapfel meiner Eltern, sagt Heiner Hesse, er hat alle nervösen Seiten meines Vaters in Potenz geerbt. Hermann Hesse reagierte allergisch auf dieses Kind, hielt es nicht aus, ging immer öfter auf Reisen. Auch die mit drei Kindern überforderte Mutter flüchtete schließlich - in den Wahn. Aber es war keine Schizophrenie, nur eine starke Depression. Das hat Heiner Hesse schriftlich, in einem Brief von C.G. Jung, den er nach dem Tod seines Vaters fand. Entweder Martin komme aus dem Haus oder er gehe, hatte Hesse gesagt. Er ging dann tatsächlich im Frühjahr 1919, wollte ein neues Leben im Tessin beginnen - ohne Frau und Kinder.
Heiner Hesse, das Dichterkind als Greis, lächelt ein Knabenlächeln. »Natürlich rebellierte ich damals! Aber andererseits habe ich meinen Vater immer bewundert. Wenn er sich Zeit nahm, dann spielte er mit uns. Freundlich war er immer, aber über bestimmte Dinge wurde einfach nicht gesprochen.« Auch darüber, dass Hermann Hesse in seiner um Jahre älteren Frau wohl immer die »Platzhalterin« (Hugo Ball) der eigenen diktatorischen Mutter erblickte, gibt es nur Andeutungen.
Das ganze Leben seines Vaters, glaubt Heiner Hesse, bündelt sich in einem Satz aus dem »Kurzgefassten Lebenslauf«. Darin beruft er sich auf eine altchinesische Fabel über einen Maler: »Da machte ich mich klein und ging in mein Bild hinein, stieg in die kleine Eisenbahn und fuhr mit der kleinen Eisenbahn in den kleinen schwarzen Tunnel hinein. Eine Weile sah man noch den flockigen Rauch aus dem runden Loche kommen, dann verzog sich der Rauch und verflüchtigte sich und mit ihm das ganze Bild und mit ihm ich. In großer Verlegenheit blieben die Wärter zurück.« Nun gut, Lokomotiven gab es im alten China noch nicht. Aber auch da schon flüchtete der Künstler in sein Werk, vor dem, was an Wirklichkeit unfrei macht.
Eine Nachbarin steht in der Tür. Sie kommt nachzusehen, ob ich noch lebe, lacht Heiner Hesse. »Na ja, wenn Du schon mal da bist, kannst du auch gleich Kaffee machen.« Denn die steile Wendeltreppe in die Küche hinabzusteigen, das ist für Heiner Hesse zur Tortour geworden. Was passierte damals, im Sommer 1919, als Hermann Hesse auf die Südseite der Alpen flüchtete, mit ihm und seinen Geschwistern? Der ältere Bruder Bruno kam zum Maler Cuno Amiet. Er blieb in der Familie, lebte auf dem Dorf. Wie Heiner Hesse das sagt, klingt es, als sei er etwas enttäuscht von seinem genügsamen Bruder. Und Martin? Der musste in ein Heim, wo nur alte Leute waren. Ein Altersheim. Und dann hat er, viel später, dieses Heim auch noch von den Besitzerinnen geerbt. Heiner Hesse fasst sich an den Kopf. Wissen Sie, durch die Krankheit ist mir immer leicht übel, vielleicht kommen daher auch die negativen Gedanken.
Als Architekturfotograf spezialisierte sich Martin auf Schwarz-Weiß-Fotografie. Als die Farbfotografie aufkam, stellte sich heraus, dass er farbenblind war. Seine Bilder zeigen Häuser ohne Menschen. Scheinbar hatte er die Krise überwunden, sagt Heiner Hesse, aber eines Tages, da war er schon fast sechzig Jahre alt, nahm er sich das Leben.
Heiner selbst wanderte von einem Heim ins nächste. Ohne festen Haltepunkt. Der Vater dirigierte die Aufenthalte im Hintergrund. Unangenehmen Begegnungen ging der Dichter gern aus dem Wege. Später haben sie darüber nie gesprochen. Auch mit der Mutter sprach er darüber nicht, ebensowenig mit den Brüdern. Jeder von uns hat es mit sich selber abgemacht, so gut er eben konnte. Und bevor Heiner Hesse zum Waldmenschen wurde, stürzte er sich - politisch links außen - in die Politik, wollte nicht so zögerlich und unpolitisch wie sein Vater sein, der über den Kommunismus geschrieben hatte: »Wieder entdecke ich, wie nahe ich dem Kommunismus stehe, einfach der Gerechtigkeit wegen. Ließe er sich ohne Flinten und Kanonen verwirklichen, wäre ich gern dabei.«
Also wurde Heiner Kommunist, gestaltete nun nicht nur Schaufenster, sondern mit revolutionärem Elan auch Versammlungsräume. Es habe lange gebraucht, sagt er, bis er in Stalin auch den Verbrecher sah, wusste, dass sein Vater wieder einmal Recht gehabt hatte, wenn er nichts auf Parteien gab, misstrauisch der Masse gegenüber blieb. Wenn man über Moral und Verantwortung redet, muss man sich an den Einzelnen wenden. Heute würde Heiner Hesse das sofort unterschreiben. An der Wohnzimmertür hängen lauter Antikriegsaufkleber, darunter eine Schildkröte, auf einen Stahlhelm kriechend: »Fuck the Army!« Im Zweiten Weltkrieg war Heiner Hesse in der Schweizer Armee. In der Schweiz herrschte - trotz Neutralität - Kriegsrecht. Heiner Hesse patrouillierte auf Höhenwegen, bei denen niemand so genau wusste, in welchem Land er sich gerade befindet. Einmal wurde, um einen Kameraden zu erschießen, ein Exekutionskommando aus seinem Bataillon zusammengestellt. Er sollte ein Spion gewesen sein. »Wie habe ich da gezittert, dass man auch mich bestimmen könnte!« Da begann Heiner Hesse, alles Militärische zu hassen. Wenn er von Kriegsvorbereitungen gegen den Irak liest, denkt er, die Menschen werden nie klug.
Das ist auch ein großes Thema des Alterswerks seines Vaters, des »Glasperlenspiels«: Wie sollen wir uns bilden? Hermann Hesse hat die Unterm-Rad-Erfahrung der Drillschule gemacht, hat die Gefährlichkeit jedes Nationalismus während des Ersten Weltkrieges ausgesprochen und wurde dafür als Nestbeschmutzer beschimpft. Es sind immer die begeisterten Untertanen, die mit ihren Reden vom höheren Sinn des Opfers fürs Vaterland ihre eigene Kleinheit als Unglück über die Welt ausschütten. Hermann Hesse, lebenslanger Autodidakt, der nie an einer Universität studierte (Heiner Hesse auch nicht), hat darum den Eigensinn verteidigt. Die einzige Tugend, die nicht instrumentalisierbar ist.
Wie oft denke er jetzt über das nach, was sein Vater an Zeitkritik im »Glasperlenspiel« formuliert hat. Die Frage darin heißt: Brauchen wir eine neue Akademie als großen Kontrollrat für Politik und Wirtschaft? Einen Ort, wo Geist noch etwas anderes ist als bloßer Zeit-Geist? Ein Gewissen der Zeit? Aber am Schluss des »Glasperlenspiels«, sage ich zu Heiner Hesse, läuft es doch wieder zurück in die rebellischen Anfänge. Der Glasperlenspielmeister Josef Knecht verlässt den elitären Elfenbeintum und geht in die Welt hinaus, wo er beim Baden in einem Gebirgssee sofort ertrinkt.
Ein schlechter Schwimmer, untauglich für die Lebenspraxis? Nein, nein, widerspricht Heiner Hesse, es ist ja seine Bestimmung, in der Welt unterzugehen. Der Intellektuelle braucht immer beides, den Rückzug aus der Welt und das Hinausgehen in sie. Nur mit einem starken anarchistischen Impuls an einem starken Widerpart findet der Geist jene Tiefe, die ihn über die beliebige Pop-Kultur hinaushebt. Dort, wo sich der Einzelne seine Freiheit erst erkämpfen muss? Genau das, sagt Heiner Hesse, ohne diesen Kampf hat Freiheit überhaupt keinen Wert.
Gunnar Decker veröffentlichte im Reclam-Verlag Leipzig ein »Hesse-ABC« (256Seiten, Broschur, 9,90 Euro).