Lou Andreas-Salomé - Die Hexe vom Hainberg

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 10 Min.
»Niemals hat eine Frau die Emanzipation mit dem festeren Vorsatz betrieben, die Waffen der Frau nicht aus der Hand zu geben«. (Werner Ross)
Das Rätsel liegt in ihrer Stärke. Anziehend zu wirken, ohne Nähe zuzulassen. Erotik zu verkörpern und gleichzeitig kühl Distanz zu fordern. Mit anderen Worten, eine intelligente und trotzdem erotisch gefangen nehmende Frau zu sein. Lou Andreas-Salomé hat sich Männern immer mit einem starken Machtinstinkt genähert. Sie besiegte Männer regelmäßig, indem sie ihre Weiblichkeit als Mittel der Dominanz einsetzte. Aber sie ließ sich nie besiegen. Hingabe konnte sie, die einen klugen Essay über die Erotik geschrieben hatte, nur als Schwäche verstehen. Vielleicht hat es damit zu tun, dass sie als Generalstochter in St. Petersburg geboren wurde, 1861 als sechstes Kind und einzige Tochter. Befehlen lernt sie früh. Der Vater ist ein Deutschbalte im Dienste des Zaren. Die Dienstwohnung der Familie liegt gegenüber dem Winterpalais. Soeben ist die Leibeigenschaft aufgehoben worden. Der Vater ist bei ihrer Geburt schon 57 Jahre alt. Vater und Tochter vergöttern sich gegenseitig. Als er 1879 stirbt, ist sie gerade achtzehn und fühlt sich, als müsse sie nun ohne Gott weiterleben. Sie interessiert sich für das Gottesproblem, aber nicht in seiner dogmatischen Form, sondern als religionsgeschichtliches Phänomen. Sie trifft den Prediger der Niederländischen Gesandtschaft und Erzieher der Zarenkinder, Hendrik Gillot, und nimmt bei ihm - heimlich - Privatunterricht. Sie lesen gemeinsam Spinoza, Leibniz, Kant und Kierkegaard. In der gemeinsamen Arbeit blüht die Achtzehnjährige ganz auf, sie ist mit ekstatischem Eifer bei der Sache. Wie in ihrem späteren Leben immer wieder geht sie intime Arbeitsbeziehungen ein, die zu Missverständnissen Anlass geben. Während Lou durch die gemeinsame Arbeit zu sich kommt, verliert sich Gillot immer mehr. Er ist unvernünftig hingerissen von ihr. Lou registriert es mit einer stillen Verachtung, in die sich Mitleid gegenüber den kopflosen Männern mischt. So verliebt ist er, dass der zweiundvierzigjährige Pfarrer in exponierter Stellung seine Familie verlassen und ganz mit ihr zusammenleben will. Lou besieht sich noch einmal das störanfällige männliche Vernunftmodell und beschließt, dass ihr so etwas nie passieren wird. Sie sollte Recht behalten. Sie flüchtet vor dem verliebten Prediger, mit dem sie aber, auch das typisch für sie, aus der Distanz weiter freundschaftliche Beziehungen unterhält, aus Russland und beginnt 1880 in Zürich Theologie und Kunstgeschichte zu studieren, erkrankt, bekommt einen Bluthusten und muss zur Erholung nach Italien reisen. Dort trifft sie Malwida von Meysenbug, die mütterliche Nietzschefreundin, deren »Memoiren einer Idealistin« sie gelesen hat. Dort trifft sie auch Paul Rée, der in Lou ein »sehr merkwürdiges Mädchen« sieht, das, wie er seinem Freund Nietzsche schreibt, dieser unbedingt kennen lernen müsse, weil sie »im philosophischen Denken zu denselben Resultaten« gekommen sei wie er selbst. Nietzsche läßt »diese Russin« (die übrigens nur sehr schlecht russisch spricht) grüßen: »Ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja, ich gehe nächstens auf Raub aus...« Alles Großsprecherei, die nicht mit Lous eisernem Willen rechnet. In Lous Vorstellung von Freiheit kommt zwar das - auch erotische - Arbeitsbündnis mit Männern (gern zu dritt) vor, aber keine Ehe. Als sie von Rom kommend einen Ausflug zum Orta-See unternehmen, erfährt Nietzsche sein »Mysterium vom Monte sacro« und Lou wird später schreiben, sie wisse nicht mehr, ob sie Nietzsche geküsst habe. Nietzsche plant für die gemeinsame Zukunft und ist schwer getroffen, als sich ihm Lou entzieht. Von Nietzsche hat sie zu diesem Zeitpunkt (1882) noch keine Zeile gelesen, er beeindruckt sie auch sehr viel weniger als sein Freund Rée. Gemeinsam lassen sie sich fotografieren. Das merkwürdige Arrangement hat sich Nietzsche ausgedacht. Er und Rée an der Deichsel eines Wagens, darin Lou kauernd mit einer Peitsche in der Hand. Eine Ahnung davon, dass Lou sie beide nur vor ihren Wagen spannte, muss der Philosoph da schon gehabt haben. Und wenn er ein Jahr später im »Zarathustra« die bösen Sätze schreibt: »Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht«, dann sprich hieraus auch der Hohn des verschmähten Liebhabers über sich selbst. Nietzsche, Rilke, Freud. Viele berühmte Männer versammeln sich in ihrem Leben. Mehr als Episoden sicherlich, aber kaum anderes als neugierig besichtigte Studienobjekte. Lernen und studieren galt ihr als Lebensform. Ekstasen fand sie in der Arbeit. Sie band sich an niemanden, ihr Unabhängigkeitswille trieb auch Nietzsche zur Verzweiflung. Man musste es ihr nicht erst mit Nietzsche sagen: »Folge nicht mir, folge Dir nach!« Etwas anderes war für sie gar nicht vorstellbar. Friedrich Carl Andreas heiratet sie 1887, vor allem wohl deshalb, um gegen Bindungsbegehrlichkeiten Dritter geschützt zu sein. Mit Andreas lebt sie bloß auf freundschaftlicher Basis zusammen, er weiß, dass er keinerlei Anspruch hat auf sie, allein darum hält die Ehe bis zu Andreas Tod 1930. »Ungebundenheit in der Bindung« heißt Lous Credo. Ihr Leben lang hat sie schnell wechselnde Liebschaften, die jedoch immer auf der Grenze zum Unverbindlichen verbleiben. Sie perfektioniert die erotische Dreiecksbeziehung. Immer, wenn ihr einer der Liebhaber zu nahe kommt, ermuntert sie den anderen. So neutralisieren sich die Kräfte und sie bleibt frei und unabhängig, während die Männer in Verzweiflung reihenweise hinsinken. Manch einer hat sie dann asexuell und egoistisch genannt. Am Gemeinsten ist die Äußerung des abgewiesenen Nietzsche, der erleben muss, wie der von ihm als Liebes-Bote ausgeschickte Paul Rée eine Verbindung mit der einzigen schicksalhaften Liebe seines Lebens eingeht. In seiner ohnmächtigen Wut verliert er alle Vornehmheit und jeden Stil: »Dieses dürre schmutzige übelriechende Äffchen, mit ihren falschen Brüsten - ein Verhängniß! Pardon!« Rée nimmt diese Äußerungen verständlicherweise so schlecht auf wie sie gemeint sind; das Verhältnis der beiden bis dahin innigen Freunde ist zerstört. Für Nietzsches Philosophie interessiert Lou sich erst einmal nicht sonderlich. Erst als Nietzsche tot ist und berühmt zu werden beginnt, wird auch sie zur Nietzsche-Expertin und schreibt das Buch »Nietzsche in seinen Werken«. Während Lou keinerlei Anteil an Nietzsches Werk, nur an seiner Verzweiflung hat, sieht das bei einem jungen Prager Dichter ganz anders aus. René Maria Rilke verdankt seine Erweckung zum Dichter Lou Andreas-Salomé. Als Rilke Lou 1897 in München trifft, ist er einundzwanzig und sie sechsunddreißig. Rilke sieht in ihr Mutterersatz (die eigene Mutter hasst er) und Geliebte zugleich. Auch Rilkes Mutter Phia rang um Unabhängigkeit, aber, so Ralph Freedman, »ihr fruchtloser Feminismus scheiterte an ihrer pseudoreligiösen Sentimentalität«. Ganz anders Lou, die die Erotik zu einer »geistigen Ikonographie« macht. Rilke schreibt zu diesem Zeitpunkt schwärmerische Kitsch-Gedichte und fühlt sich als Künstler. Bei Lou lernt er, dass Schreiben strenges Arbeiten bedeutet und er ist von ihrer »ehernen Kargheit« und »schonungslosen Kraft« tief getroffen. Lou gibt René den Namen Rainer, lehrt ihn, dass Dichten bedeutet, genau die Natur zu beobachten, geht mit ihm barfuß über morgentaunasse Wiesen (das behält er lebenslang bei) und reist mit ihm nach Russland. Rilke, der im Winter 1896/97 gerade die religiös-schwärmerischen »Christusvisionen« verfasst, hat von Lou den Text »Jesus der Jude« gelesen und will sie darum unbedingt kennen lernen. Er schickt ihr seine Gedichte, die sie kopfschüttelnd beiseite legt. Aber Rilke ist ein Meister im Kontakt-aufnehmen mit Frauen, die ihm gesellschaftlich nützlich sein können. So wird ihm auch Lou zur Türöffnerin zuerst der Münchner, dann der Berliner Gesellschaft. Lous Härte seinem Werk gegenüber bleibt aber konstant. Als er ihr die Gedichtsammlung »Dir zur Feier« schenkt, wirft sie die Hälfte davon weg. Als Rilke dann 1899 die Sammlung »Mir zur Feier« veröffentlicht, sind nur noch sehr wenige dieser Gedichte darin enthalten. Lou lehrt Rilke den nüchternen Rausch. »Was für eine große Revolutionärin Sie doch sind«, schreibt er ihr. Rilke hat einen Menschen gesucht, der ihn vor sich selbst rettet, und meint, ihn in Lou gefunden zu haben. Auch diese Illusion muss Lou dann vier Jahre später zerstören, aber diesmal verstrickt sie sich selbst, liebt sie zurück. Rilkes unberechenbare Wutausbrüche aber will sie nicht länger hinnehmen. Trotzdem ist sie verletzt, als Rainer 1901 ankündigt, die Worpsweder Bildhauerin Clara Westhoff heiraten zu wollen - und kündigt die Beziehung mit einem »Letzten Zuruf« spektakulär auf. Rilke leidet unter der Trennung und bemüht sich um gnädige Wiederaufnahme bei der mütterlichen Geliebten. Aber Lou ist nun mit anderen Liebesaffären beschäftigt. Lou eine Revolutionärin? Im Sinne einer gelebten Einheit von Intellekt und Sinnlichkeit sicherlich. Sexualität zulassen und trotzdem Freundin in einem intellektuellen Sinne bleiben, das war ihre - unlebbare - Lebensutopie. Ort dieser - mystischen - Einheit von Verstand und Gefühl wird ihr die Arbeit, in der sich ihr Liebe, Ekstase und Pflicht verbinden. Eine Überforderung für alle Männer, mit denen sie zu tun hatte. Ihr Verhältnis zur eigenen Sexualität aber bleibt paradox, wie Freedman schreibt: »Man spürte bei ihr einen starken Quell geistiger Kraft, der von Kindheit an mit Sexualität und deren Verweigerung durchmischt war.« Eine radikale Wendung vollzieht sich in Lous Leben. Sie begegnet der Psychoanalyse. Sie hat Berlin verlassen, weil Friedrich Carl Andreas in Göttingen mit siebenundfünfzig Jahren endlich eine Professur für Iranistik erhält. Lou stürzt sich in die neue »werdende Wissenschaft« der Psychoanalyse, beendet abrupt ihre (nicht unerfolgreiche) Schriftstellerei. Auf dem Gruppenfoto des Dritten Psychoanalytischen Kongresses 1911 in Weimar ist erkennbar: Sie steht bereits wieder im Mittelpunkt. Dabei ist Lou durchaus skeptisch, was das schöpferische Vermögen der Frau betrifft. Bereits 1900, unter dem Eindruck des zu sich selbst kommenden Rilke, hat sie in dem Essay »Der Mensch als Weib« geschrieben, schöpferisch, im Sinne eines großen Künstlers, könne nur der Mann sein. Vielleicht darum ließ sie ihr eigenes Schreiben - dem immer ein manirierter Ton einher ging - so leicht zurück. Wo Lou auftaucht, herrscht Geschäftigkeit, spiritistische Sitzungen werden abgehalten, sie schlägt alle in ihren Bann. Werner Ross schreibt, er wäre ihr gern begegnet und fügt leicht spottend hinzu, auch wenn er nur auf Platz 291 ihrer akribisch geführten Bekanntenliste gelandet wäre. Lou praktiziert als Psychoanalytikerin und wird von den Göttinger Nachbarn die »Hexe vom Hainberg« genannt. Sie geht immer noch gern barfuß und trägt »sackartige Kleider«. Ross meint, sie würde heute »die perfekte Grüne« abgegeben haben. Aber das ist wohl schon wieder ein Achtziger-Jahre-Bild. Unter ihren Psychoanalytiker-Kollegen gibt es auch kritische Stimmen zu ihr. Lou, die eine Beziehung zum abtrünnigen Freud-Anhänger Poul Bjerre hatte, forderte von diesem, er solle sich von seiner kranken Frau, der er die Treue hielt, trennen. Sie sah darin die Verwechslung von »Erstarrung mit Treue, Lebensangst mit Liebe, Krankheit mit "Moralität"«. Bjerre konnte in Lous Haltung jedoch nur Hartherzigkeit und eine symptomatische Unfähigkeit zum Opfer sehen. Tatsächlich sieht Lou im Opfer eine Schwäche. Und ihre Stärke ist der »strahlende Egoismus«, der auch in Kauf nimmt, Enttäuschungen zu bereiten. 1930 stirbt Friedrich Andreas, 1931 lernt sie ihren späteren Herausgeber und Nachlassverwalter Ernst Pfeiffer kennen, der bis zu seinem Tod 1986 alles dafür tut, dass die Ikone Lou Andreas-Salomé keine Kratzer erhält. Heldenverehrung wurde zum Editionsprinzip. Um so wichtiger ist deshalb, dass es die unabhängigen Bücher von Werner Ross »Lou Andreas-Salomé - Weggefährtin von Nietzsche, Rilke, Freud« (Siedler-Verlag) sowie von Michaela Wiesner-Bangard und Ursula Welsch »Lou Andreas-Salomé - "Wie ich dich liebe, Rätselleben"« (neu bei Reclam Leipzig) gibt, die eine Frau zeigen, die entschlossen ist, ein Höchstmaß von Unabhängigkeit zu leben. Herzkrank und brustkrebsoperiert lebt Lou Andreas-Salomé die letzten Jahre zunehmend isoliert in ihrem Haus am Hainberg. 1937 stirbt sie. Ihre Asche darf nicht, wie sie es wünscht, in ihrem Garten verstreut werden. Das Gesetz fordert ein ordentliches Begräbnis. Die postume Zurückschneidung des Enfant terrible auf konventionelles Maß beginnt. Ihr Wohnhaus wird 1986 abgerissen, trotz einer Bürgerinitiative.

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