Eine Odyssee durch das feuchtheiße Tiefland Guatemalas, in dessen Buschwald 200 Maya-Städte, mehrere tausend Bauten versunken sind.
In einem Dorf nicht weit vom Ufer des Lago Petén Itzá gerate ich mitten in eine Corrida. Der Patron des Dorfs hat Namenstag, gesegnet sei San Juan oder San José, der ganze Ort ist aus dem Häuschen. Feuerwerk. Blasmusik. Schräger Gesang. Die Rufe der Händler, der Weiber, der Kinder. Im Halbschatten der Arkaden verbergen sich die alten Männer, sie trinken, schauen, urteilen. Ein Stück entfernt stehen die Jungen, und quer über den gleißend hellen Platz schieben die Schönen der Gegend zur Arena aus Brettern, Stricken und Planen. Stierkampf ist nur einmal im Jahr, doch der Stier will nicht kämpfen, will nicht sterben, nicht heute.
Ich sehe zu, von fern. Ich sitze an einer Wand der buckligen Kirche, am warmen Stein: am Block einer Pyramide, die hier für Chac errichtet wurde, den Regengott, oder für eine andere Gottheit der Maya. Hier hat der Tempel gestanden. Ich fühle den Stein. Meine Fingerkuppen sehen mehr als meine Augen: das schwache Relief einer Figur mit Schultersack und Stab. Ich döse, ich träume. Ich wäre gern ein anderer - der andere auf dem Stein, ein Fremder zwar, doch nicht kenntlich an Haar und heller Haut und Sprache. Unerkannt könnte ich reisen, fragen, vordringen auf verschlossenes Gebiet. Ich träume von der Verwandlung. Dann greife ich nach Strohhut, Bündel und Machete und mache mich wieder auf den Weg: ein Campesino aus dem Innern des Landes Petén.
El Petén - einst Kernland der Maya-Kultur
El Petén: Das ist die Tiefebene im Norden von Guatemala. Ein Drittel des Staatsgebiets, lange unberührt und fast menschenleer - bis vor Jahrzehnten die Siedler aus dem übervölkerten, vom Krieg verwüsteten Hochland kamen. El Petén: Einst Kernland der Maya-Kultur, heute Grenzland. Willkürlich gezogene Linien zerschneiden die Karten der alten Stadtstaaten. Zerstückelt ist das Reich, Petén nur der Rumpf, die Glieder abgetrennt - Chiapas im Westen, Belize im Osten, im Norden die Halbinsel Yucatán. El Petén war Endpunkt der langen Reise des Mayavolks der Itzá. Aus Zentralmexiko kommend, haben sie in Chichén Itzá mächtige Spuren hinterlassen, bevor sie weiter nach Süden zogen - bis zum Lago Petén Itzá, diesem Kleinod einer Lagune im Regenwald, in das »Baumland«, ein Fabelreich belebter Wälder, Flüsse, Seen und Sümpfe.
Ich bin unterwegs. Blassblau ist der Himmel, die Landschaft karg: Buschwald ohne Ende, zerschnitten von staubigen Pisten. Gegen Mittag glüht die Luft, glüht der Asphalt. Im mageren Schatten der Straßenbüsche trottet ein Köter zum nächsten Dorf; manchmal liegt einer tot am Rand. Ich hörte von Reisenden, die an der Monotonie ewigen Grüns erblindet sind. Andere, heißt es, hat der Busch verschlungen.
Ich bin unterwegs, solange ich denken kann, wie der Fahrende aus dem Sagenbuch der Väter. »Wenn die Sonne sinkt und die Luft kühl wird, dann geht im Reich der Maya, im Mayab, der Wanderer seiner Wege. Er geht schweigend und gleichmäßigen Schrittes. Wenn er hinter sich Stimmen hört, wendet er nicht den Kopf. Wenn man ihn um Wasser bittet, reicht er die Kürbisflasche. Und geht weiter.«
In einer Hütte singen zwei Frauen vor einem zum Altar gerichteten Tisch. Verzeih uns, Herr, singen sie, erbarme dich! Sie beten für das Wohl ihrer Kinder. Für die, die gestorben sind. Kerzen und Blumen zieren den Altar, auf dem die Opfergaben für die Toten stehen, schwarze Bohnen mit Schweinefleisch, Mandarinen und Tortillas. Es regnet. Unsere Kleinen im Himmel waschen für den Ehrentag ihre Wäsche, sagt eine Frau. Nein, widerspricht die andere: Es sind ihre Seelen, die heute zur Erde herabsteigen.
Wohin gehst du? fragen die Frauen. Geradeaus, Richtung Meer. Warum? Eine Legende kommt mir in den Sinn, vom bärtigen Lehrer des Mayavolkes, der vor Zeiten übers Meer in die Fremde zog und bei der Rückkehr weißhäutige Männer bei sich hatte, Männer mit furchtbaren Waffen und schlechten Manieren. Quetzalcoatl hieß der weise Lehrer, hier Kukulcán oder Kukumatz genannt. Die gefiederte Schlange. Ich will an die Legende erinnern, doch die Frauen lassen mich nicht zu Wort kommen. Nimmst du die weißen Männer wieder mit? fragen sie. Ich verstehe nicht. Sie verwechseln mich. Bleib doch noch, sagen sie. Ich bin der Wanderer, erwidere ich, ich muss weiter.
Am Abend raste ich in einem Ort ohne Reiz. Im Halbdunkel einer Kantine trinke ich ein Bier, und kommt ein Bauer dazu, tauschen wir sparsam Blicke, Gesten und Sätze, als würden wir einander aus ferner Zeit kennen. La Caoba heißt das Dorf, Mahagoni-Baum, und der Bauer heißt José. Der Vater sei auch Landarbeiter gewesen, erzählt er, er habe auf magerem Boden Mais und Bohnen gezogen, wie vor ihm schon der Großvater, der Urgroßvater und so fort. Männer unzähliger Generationen haben Bäume gefällt und Unterholz gerodet, haben mit dem Grabstock Löcher gestochen und in jedes ein paar Körner gesteckt, bevor sie das Loch beim Weiterschreiten wieder zutraten, Männer mit Machete, mit Strohhut und Schultersack, genau wie du, sagt José.
Aus Mais, weiß und gelb, formte der Schöpfer die Menschen, nachdem sich Menschen aus Lehm als zu weich und brüchig erwiesen hatten, zu anfällig gegen Regen. Ixi'im, der Mais, galt als göttliches Wesen. Eine wohlmeinende Gottheit sei das gewesen, sagt José, ein Gott, der für Fülle sorgte. Nur in Notzeiten, die freilich häufiger wurden, erschien er, ein Toter, mit schwarzen Streifen im Gesicht oder in Begleitung des Furcht erregenden Todesgottes Ah Puch.
José ist das jüngste von sieben Geschwistern gewesen. Als die Älteren fort waren, sollte er die Eltern versorgen. Mit dreizehn zog er in eine nahe gelegene Ruinenstadt. Sieben Jahre lang hat José dort Cola an Touristen verkauft, mit Schwielen an den Händen, weil er Körbe und Kühlboxen kilometerweit zu den Tempeln schleppen musste. Später versuchte er sich als Busfahrer für eine Reiseagentur, doch die Konkurrenz, erklärt er, sei mörderisch, sie fressen sich gegenseitig. Du solltest sehen, wie sich die Fahrer am Flughafen um die paar Gäste reißen, sagt José.
Für die Nacht werde ich die Hängematte unterm Wetterdach hinter seiner Hütte festmachen, in seinem mit Müll übersäten Garten. Drinnen läuft der Fernseher, ein Baseballspiel in voller Lautstärke. Ich werde nicht zur Ruhe kommen. Wegen der Schreie. Dann wegen der Hunde in den Nachbargärten. Dann wegen der Hähne. Und schließlich wegen der Ratten, die sich nähern, als ich kurz eingenickt bin. Nein, hier kann niemand schlafen.
»Eine zerborstene Barke inmitten des Ozeans«
Vor Tag bin ich auf den Beinen, im Busch, als Gesellschaft nur ein paar wilde Truthähne, deren regenbogenfarbene Flügel schimmern wie Stahl. Bei Einbruch der Dämmerung erreiche ich die Stadt mit dem betörenden Namen. Tikal, »Der Ort, an dem Geisterstimmen ertönen«. Brotnuss- und Räucherharzbaum überragen ihn, Palmen und Zedern, Feige, Kautschuk und Kakao und der Weltenbaum Ceiba. Betörend riecht es, nach Schlamm und Fäulnis und plötzlich süß und herb nach Blumen und Gewürznelken.
Ich sehe Ruinen von der Farbe gebleichter Knochen, Paläste und weite Plätze, Trümmer von wilder Schönheit. Ich versuche, die Botschaften der Steine und Scherben zu verstehen, die Rätsel der für die Ewigkeit geschaffenen Monumente, der Stelen im Unterholz, von Moos überzogen, von Wurzeln gehoben, gestürzt und zerbrochen. Der Wald holt sich wieder, was der Mensch ihm entrissen hat.
Ein europäischer Forscher im 19. Jahrhundert berichtete über so einen Ort im Busch: »Die Stadt lag vor uns wie eine zerborstene Barke inmitten des Ozeans, die Masten zerbrochen, der Name ausgelöscht, die Besatzung umgekommen. Niemand war geblieben, der erzählen konnte, wem das Schiff gehört hatte, wie lange es unterwegs gewesen war, und was schließlich seinen Untergang herbeiführte.«
Sonnenaufgang. Später darf man nicht kommen, denn zerbrechlich ist der Zauber der toten Stadt; die erste Busreisegruppe zerstört ihn. Eine Gruppe schwarzer Brüllaffen begrüßt den Tag mit martialischem Geschrei. Ich sehe Tukane und Papageien, ich ahne Ozelot und Lanzenotter, Puma, Tapir, Nasenbär, auch Bruder Jaguar, Balam, mag durch das Dickicht streifen. Die mythischen Tiere der Maya leben, und so leben auch ihre Mythen.
Steile Treppen führen empor zu einer über den Wipfeln gelegenen Plattform. Dies ist Tempel IV, der Tempel der doppelköpfigen Schlange, die größte Pyramide des Mayab. Der Blick hinab, von diesem Punkt auf halber Höhe zwischen den dreizehn Himmeln und den neun Unterwelten der alten Maya: überwältigend. Aus dem Blätterdach ragen andere Pyramiden, Felseninseln in einem ruhig wogenden Meer, Oasen in grüner Ödnis. Aber nein, nicht Ödnis ist der Dschungel, sondern verlassene Kulturlandschaft. 200 Städte liegen im Wald verborgen. Zwischen 600 und 800 unserer Zeitrechnung erreichte das Reich seinen glanzvollen Höhepunkt. Dicht besiedelt war die Ebene, als das Ende kam. Überbevölkerung, Raubbau, Wassermangel, Bodenerosion und Krieg - ewig dreht sich das Rad der Verwüstung. Hier oben begreift man das Unvorstellbare: dass diese Städte so hoch gewesen sind und so weitläufig. Dass versteckt im Buschwald von Tikal mehrere tausend Bauten ruhen.
Ich sitze vor der Pyramide, rot-weiß-grün verwittert ist der Stein, pilzschwarz darunter und noch tiefer kalkweiß. Ich hole eine Flöte aus meinem Bündel, spiele leise, nur für mich. Ich warte auf die Stunde, da alles erwacht, da sich Ruinen zu Häusern vollenden und die Zeremonial-straßen wieder voller Menschen sind. Ich glaube Stimmen zu hören. Ich sehe eine Prozession, die Priester schwarz bemalt, das Opfer blau, und dahinter die Menge, die schon den Tod des Gefangenen feiert und den Gottessegen, den dieser Tod der Stadt bringen wird, sein Sturz, ohne Herz, vom Tempelrand in die Tiefe.
Nach Sonnenaufgang kommt ein junger Mann die Treppe herauf. Ricardo! Wir sind einander vor Wochen begegnet, in den Bergen Guatemalas, in der Stadt Antigua und am See Atitlán. Er erinnert sich nicht. Wir sitzen auf der obersten Stufe, schweigend, bis er zu sprechen beginnt. Dass er in der Hauptstadt wohne (ich nicke), dass sein kleiner Sohn ihm und der Frau Kummer bereite, weil er jede Nacht schreit (wieder nicke ich). Dass er fast alles unternommen habe, um die Wurzel des Übels zu finden, sogar eine Pilgerfahrt zu Maximón, dem seltsamen Heiligen des Hochlands, der auch nicht helfen konnte. Ohne Hoffnung sei er zurückgekehrt in sein Viertel mit den ausgespülten Wegen, den geweißten, wellblechgedeckten Hütten, den lärmenden Nachbarn.
Nächtelang habe er erneut dem Schreien und Wimmern gelauscht, sagt Ricardo, als wir uns die unglaublich steile Treppe hinabtasten, bis ein Zauberer aus dem Barrio ihn auf die Spur brachte: Vermutlich, meinte der Alte (ein Itzá aus dem Land Petén), leide der Schutzgeist des Kleinen, das zweite Ich. Nagual nannten die Maya von einst jenes Wesen, meist ein Tier, das jedes Kind bei Geburt als Begleiter mit auf den Weg bekommt. Was dem Nagual schadet, schadet dem Menschen. Hüten muss man den Geist, vor Unbill bewahren. Nur kann das Kind nicht wissen, welches Tier sein Begleiter ist, ob Ameise oder Jaguar, Pferd oder Stier, und ob er bedroht wird. Am magischen Ort, schloss der Alte, in einem Tempel von Tikal, würde sich ihm, Ricardo, der Geist seines Sohns offenbaren. - Ich lache nicht.
Spottet lieber nicht über den Schlangengott!
Wind ist aufgekommen, eine Wolkenwand verdunkelt den Horizont, und plötzlich geht ein Laubsturm über uns hinweg, kurz und heftig, so dass Äste, Früchte, dürre Blätter und Rindenteile auf uns niederprasseln. Schlimmer ist der Ansturm danach: die menschliche Flut brandet in die Stadt. Auch eine Prozession.
Mädchen lachen, lachen so laut, dass ich wach werde. Nicht in Tikal bin ich, sondern in einem Dorf am See Petén Itzá. Ich sitze mit dem Rücken an der Kirchenwand, die Mädchen stehen vor mir, sie lachen mich aus. Alter! rufen sie, Kukulcán! Kukumatz! He, Federschlange! Spottet nur über den Schlangengott, sage ich und schreibe mit einem Stock ein paar Wörter in den Sand, Schlangennamen. Spottet besser nicht, sonst werden euch die Schlangen bedrängen: die Korallenschlange und die Klapperschlange, die schwarze Ekuné und die drei Meter lange Ochcán. Die kaffeefarbene Schlange mit dem Katergesicht und jene, die mit dem Schwanz beißen kann. Eine lacht wie eine Frau, eine weint wie ein Kind. Eine kann springen, eine verspritzt giftigen Nektar. Eine Riesenschlange frisst im Haus die Ratten, die andere lauert in der Nähe des Wassers.
Die Mädchen sind still geworden. Ist das wahr? fragen sie. Jetzt lache ich. Ich verwische die Worte im Sand. Ich erhebe mich. Sonnenuntergang. Das Dorf ist betrunken und tot der Stier vom Nachmittag. Nein, er mochte nicht kämpfen, so sehr ihn die Männer, aufgestachelt von spitzen Trompetensignalen und vom Gebrüll der Meute in der Arena, auch reizten. Sie haben ihn hinausgeführt. Auf offener Straße haben sie ihn abgestochen und zerteilt. Das Fleisch ist rasch verkauft worden. Haut und Schädel liegen noch im Staub, die Blutlachen trocknen. - Vor der Dunkelheit bin ich aus dem Ort.