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Mysteriöse Widersprüche

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Historische Aufnahme mit einem der Steinmosaike im Bernstein-Zimmer Foto aus: Wermusch, „Die Bernsteinzimmer-Saga“

Einer Tagebuchnotiz des russischen Kunstschutzoffiziers Oberst-? leutnant Alexander Jakowlewitsch ?? Brjussow vom 10. Juni 1945 zufolge : sollen die Kisten mit dem Kunstwerk von den eigenen Truppen im Siegestaumel verbrannt worden sein. Der junge Münchner Publizist Maurice Philip Remy hatte das Tagebuch entdeckt und es im seinem vor einem Jahr erstmals ausgestrahlten Fernsehfilm „Ende einer Legende. Das Bernsteinzimmer“ als Beleg für die Vernichtung des Kunstwerks gewertet. Remy hatte noch einen zweiten Hauptzeugen. Der ehemalige Direktor des Katharinenpalais, Alexander Michailowitsch Kutschumow, sagte aus, er habe in der Ruine des Königsberger Schlosses Reste der florentinischen Steinmosaike aus dem Bernsteinzimmer gefunden. Ihm sei schwer “,ups Herz geworden, denn dies ?Ißbnntenur bedeuten, daß das Zim-J fther verbrannt sei. Wie seltsam. Noch in einer Veröffentlichung aus dem Jahre 1989 hatte Kutschumow vehement die Ansicht vertreten, daß das Bernsteinzimmer nicht zusammen mit den Steinmosaiken gelagert wurde.

Nun scheint es ganz klar zu sein: Das „Achte Weltwunder“, wie ein britischer Diplomat das Bernsteinzimmer bezeichnet hat, soll einen sicheren Unterschlupf gefunden haben. Am 19. November erhielt ich den ersten Anruf. Bis zum 23. November zählte ich 26, von deutschen und ausländischen Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunkanstalten, von Bekannten und mir völlig fremden Leuten. Haupttenor: Was hat es mit der Meldung in. der sowjetischen Zeitung „Rabotschaja Tribuna“ auf sich? Ein ge-

wisser Alexander Nadscharow, ein unter der sowjetischen „Bernsteinzimmer-Gilde“ völlig unbekannter Mann, will nun den Beweis liefern können, wo das Bernsteinzimmer zu finden ist. Es liege in einem Bunker des sowjetischen Truppenübungsgeländes Ohrdruf zwischen Arnstadt und Crawinkel in Thüringen. Nadscharow schrieb auch von entsprechenden „Dokumenten“, die in seinem Besitz seien.

Ist es nun ein Zufall, daß Nadscharow just zu der Zeit das Ergebnis „seiner“ Recherchen auf den Tisch legt, da mein Buch „Die Bernsteinzimmer-Saga“ auf den Markt gekommen ist und der „Tagesspiegel“ eine siebenteilige Fortsetzungsreihe daraus veröffentlicht hat? Auf den Seiten 57 bis 61 habe ich dort eine bislang in der SU völlig unbekannte Hypothese aufgestellt. Sie zielt auf das letzte, doch von der Naziprominenz nicht mehr bezogene Führerhauptquartier „Olga“ im Jonastal zwischen Arnstadt und Crawinkel, das als Bauobjekt unter dem Geheimcode „S III“ geführt wurde. Ein Teil der 25 Haupt- und zahllosen Querstollen in der etwa 80 m hohen Kalksteinwand, über der sich der sowjetische Truppenübungsplatz Ohrdruf befindet* soll bereits bezugsfertig gewesen sein, als die Amerikaner am 10. April 1945 das Gebiet einnahmen. Zeitzeugen zufolge seien im Februar/März 1945 ganze Güterzüge in Crawinkel angekommen, deren Fracht nächtens mit Lkw in das Jonastal gebracht wurde, Was davon stimmt, wird sich erst erweisen, wenn der bislang unzugängliche Stollenkomplex 21-25 geöffnet wird.

Aber da war noch der geheimnisvolle Funkspruch des SS-Sturmbannführers Gustav Wyst: „Aktion Bernsteinzimmer beendet, -jSugänge -befehlsmäßig getarnt. Sprengung-erfolgt. Opfer durch“ FeindeinWirkung...“ Der Befehl hatte gelautet, Wyst solle das Bernsteinzimmer in „B III“ unterbringen. Nach Gustav Wysts Tod im Oktober 1947 hatte dessen Sohn Rudi die Unterlagen in der verschimmelten Kartentasche des Vaters im Keller der elterlichen Wohnung in Elsterberg/Vogtland gefunden. Er hat sie bald darauf verbrannt. Da, wie Rudi Wyst zwölf Jahre später gegenüber dem KGB aussagte, die gefundenen Papiere „feucht, zusammengeklitscht, halb vermodert und kaum entzifferbar“ gewesen wären, fragte ich ihn vor etwa zwei Jahren, ob er es für möglich halte, daß dort nicht „B III“, sondern „S III“ gestanden habe. Vater dieses Gedankens war der Ilmenauer Journalist und Jonastal-Forscher

Gerhard Remdt, der schon 1987 auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht hatte. Rudi Wyst antwortete mir, er könne sich damals sehr wohl geirrt haben, zumal der Code in den von ihm gefundenen Papieren nur einmal auftauchte.

Damit konnte der Hypothese, das Bernsteinzimmer sei in das Objekt „Olga“ bzw. „S III“ gekommen, schon eine gewisse Wahrscheinlichkeit eingeräumt werden. Denn alles, was sich dort Anfang April 1945. ereignete, fügt sich nahtlos in Rudi Wysts 1959 abgegebene Aussage ein: Der Vater war in der ersten Hälfte April 1945 nicht daheim. Jonastal-Forscher fanden heraus, daß SS-Leute in den fertiggestellten Stollen Sperrsprengungen vorgenommen hatten („Zugänge befehlsgemäß getarnt. Sprengung erfolgt“). Und die Tieffliegerangriffe der Amerikaner sowie die Gefechte von Einheiten der 6. SS-Gebirgsjägerdivision mit US-Truppen in Arnstadt und Crawinkel brachten „Opfer durch Feindeinwirkung“. Franz Fitzke und Halim Hosny hatten diese Version in ihrem am 24. Oktober 1991 ausgestrahlten Fernsehfilm „Das letzte Führerhauptquartier“ aufgegriffen, der den Rätseln vom Jonastal

gewidmet war. Es liegt auf der Hand, daß viele Angehörige der in Ostdeutschland noch stationierten Sowjettruppen den Film gesehen haben. Zusammen mit den Informationen in der „Bernsteinzimmer-Saga“ kam das alles mit hoher Wahrscheinlichkeit Herrn Nadscharow zur Kenntnis, der dann aus unseren vagen Vermutungen die „absolute Wahrheit“ zauberte. Möglicherweise sind sie neben den auch in RußläncUängst bekannten Aussagen von Rudi Wyst die einzigen „Dokumente“, über die er verfügt. Denn auch sowjetische Archive dürften über kaum mehr Unterlagen verfügen, als jenes Dutzend Papiere, das uns vorliegt und sich mit dem Vermerk „Geheime Kommandosache“ nur auf das Bauobjekt „S III“ bzw. „Olga“ bezieht. Vom Bernsteinzimmer ist dort nicht die Rede. Alles andere ist damals sorgfältig beseitigt worden; denn der Bau des letzten Führerhauptquartiers hat etwa 7 000 KZ-Häftlingen das Leben gekostet.

Als die Rote Armee dann im Juli 1945 das Objekt „S III“ übernahm, observierte sie zusammen mit Angehörigen der Bergsicherungsbehörde, Erfurt die Gänge und ließ Zeichnungen anfertigen. Die ver-

mutlich durch Sperrsprengungen getarnten Zugänge zu den fertigen Räumen im Stollenkomplex 21-25 fanden sie nicht. Doch es gibt Hinweise, daß die Nazi-Führer bei ihrem von der Frontlage diktierten Umzug in das Objekt „Serail“ (Obersalzberg) im Jonastal Material zurückließen, „in der Hoffnung, es später einmal wiederzufinden“ (Gerhard Boldt, „Die letzten Tage der Reichskanzlei“, Hamburg 1947).

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