Fang nie an aufzuhören
Seit vier Jahrzehnten verfolgt der Dokumentarfilmregisseur Winfried Junge die Lebensläufe der Kinder von Golzow. Es entstand die längste Dokumentarfilm-Reihe der Welt. Sie zeichnet ein Stück deutsch-deutsches Leben auf: ehrlich und ungeschminkt
Golzow ist ein kleiner Ort im Oderbruch, eine gute Zugstunde von der Hauptstadt entfernt. Dort nahm alles seinen Anfang: Der 28. August 1961 war für 26 Mädchen und Jungen ein besonderes Ereignis: Einschulung. Alles war neu - das Schulgebäude, die Lehrerin, die frisch von der Fachschule kam. Aber das Aufregendste waren die Filmleute um Winfried Junge, die jeden ihrer Schritte mit der Kamera verfolgten.
Seit vierzig Jahren begleitet und beobachtet der Regisseur sie nun schon mit der Kamera. Als »Kinder von Golzow« sind sie um die Welt gegangen. 17 Filme hat der 66-Jährige während dieser Zeit über sie gedreht - über die Schulzeit, die erste Liebe, die Familien, über die Um- und Aufbrüche seit 1990. Es entstand die längste Dokumentarfilm-Reihe des internationalen Kinos.
Eines der Kinder war Jürgen Weber, ein aufgeweckter Junge mit strohblondem Haarschopf und offenen, neugierigen Augen. Der heute 47-Jährige wohnt mit seiner Familie noch in Golzow, in einem gepflegten Haus etwas abseits der Hauptstraße. Die meisten seiner Klassenkameraden zogen bereits vor Jahrzehnten fort. Er ist geblieben, »weil meine Familie schon immer hier gelebt hat«. Mit Tieren auf dem Hof wurde er groß, hinterm Haus hält er selbst Kaninchen und Hühner. »Ich bin ein Landmensch«, sagt er, »in der Stadt könnte ich nicht sein.«
Er sitzt am Küchentisch - allein zu Hause. Wie fast immer in den letzten elf Jahren. Seine Frau arbeitet, er ist arbeitslos - zum dritten Mal. Nein, dass es einmal so kommen würde, hätte er sich nie vorstellen können. Sein Leben verlief in geregelten Bahnen. Er war zufrieden. Aber jetzt? Das Dorf hat sich seit der Wende verändert. »Jeder lebt nur noch für sich, keiner sieht mehr nach dem anderen.« Und dann platzt es aus ihm heraus. Er wollte weg: »Abhauen!« Das klingt noch immer wild entschlossen und trotzig. Zu einem Freund wollte er, der es in Süddeutschland zu etwas gebracht hat. Der sei clever, das klingt wie ein Hilferuf nach jemanden, der ihn an die Hand nimmt. Jürgen hat zwei Berufe: Maler und Maurer; er will endlich wieder arbeiten, »zeigen, was er kann«. Wie zum Beweis zeigt er sein Haus: »Habe ich alles selber gebaut.« Er hat seinen Stolz nicht verloren.
Jürgen Weber ist nicht fortgegangen. »Weil er ohne sein Golzow und die Familie nicht sein kann«, weiß Winfried Junge. Beide verbindet eine jahrelange Freundschaft. Wenn Jürgen über den Regisseur spricht, nennt er ihn seinen »zweiten Vater« und ist dabei oft den Tränen nahe. »Winne war immer ehrlich zu uns«, sagt er. Während der Dreharbeiten zum Film über Jürgen Weber ist ihm der Regisseur mit der Kamera bis aufs Arbeitsamt gefolgt. Nicht jeder hätte sich da filmen lassen. Doch Weber meint: »Warum nicht? Das bin doch ich.« Das war 1994. Der Film trägt den Titel »Das Leben des Jürgen von Golzow«.
Er ist mittelgroß, stämmig, bärtig. Der Mann kann zupacken, das sieht man auf den ersten Blick. Er ist ein Jahr älter als Jürgen Weber und heißt Dieter Finger. Beide waren Klassenkameraden. Denn Dieter kam als »Altlast«, als Sitzenbleiber, in jene 1. Klasse. Schon mit elf Jahren hatte er genaue Vorstellungen von seiner Zukunft: Zimmermann wollte er werden, eine Familie haben und in die weite Welt reisen. Aber auf keinen Fall in Golzow bleiben. Dieter verließ wie Jürgen die Schule nach der 8. Klasse. Ein Glück, hieß es damals hinter vorgehaltener Hand. Denn die Zensuren waren grauenvoll.
Dieter Finger wurde Zimmermann, zog aus Golzow fort. Seit 24 Jahren ist er mit Anita verheiratet. Sie haben drei Kinder. Die »weite Welt« hat er sich auch erobert: Bis nach Frankfurt am Main, wo er 1984/ 85 mit an der Startbahn West baute, und nach Libyen war er gekommen. Seine Frau, die damals schon als Altenpflegerin arbeitete, blieb mit der ältesten Tochter und dem gerade geborenen Sohn zurück. »Da gab es schon Momente, wo ich auch über Trennung nachdachte«, erinnert sie sich. Aber ihr Mann sagte: »Weglaufen gilt nicht!« »Dieter war schon immer ein charakterstarker Mensch, der seinen Kopf durchsetzen wollte.« Sie ist froh, nicht weggelaufen zu sein. Im nächsten Monat feiern beide Silberne Hochzeit. Dieter Finger aber ist ein »Zugvogel« geblieben. Als die Mauer fiel, viele Ostdeutsche sich noch neugierig die Nasen an den bunten Schaufensterscheiben des Westens plattdrückten, hatte er bereits einen Job auf einer Baustelle im Westteil Berlins. Doch seine Heimat war immer an der Oder, wo er für die Familie ein Haus baute, nur einen Katzensprung von Golzow entfernt.
38 Jahre des Lebens von Dieter Finger hat Winfried Junge dokumentarisch festgehalten: »Ein Mensch wie Dieter. Golzower« wurde einer der erfolgreichsten Filme seiner Reihe und schaffte es bis nach New York, wo er jüngst mit Erfolg im Museum of Modern Art lief. Er endet mit dem Einzug in das neue Haus. Der Zimmermann aber zog schon wieder in die »Welt« - in die Niederlande.
Zwei Jahre sind seitdem vergangen. Dieter Finger hat das Oderbruch für immer verlassen, mit der Familie. Bei unserem Besuch saßen sie schon auf gepackten Koffern. Das Haus war verkauft. Sie wollen noch einmal neu anfangen in Nordrhein-Westfalen. Leicht fiel es ihnen nicht, die Heimat zu verlassen - »in ihrem Alter«. »Wir werden immer und immer wieder hierher zurückkommen, zur Familie, zu den Verwandten und Freunden«, sagt Dieter. Doch zum Leben gehöre auch Zufriedenheit. Mit dem, was sie erreicht haben, seien sie es, aber »nicht mit dem was heute ist.« Sie wären es, wenn sie an der Oder eine Zukunft hätten. »Die Leute hier gucken immer nur vor den Berg, sie müssen auch mal drüber schauen«, meint Dieter Finger fest entschlossen.
Der Neuanfang wird nicht mehr gedreht. »Irgendwann muss ein Schluss sein«, erklärt Winfried Junge. Es warten noch andere Langzeit-Porträts auf ihre Fertigstellung. Richtig glauben mag man ihm das nicht. Denn als er vom Entschluss des Zimmermanns erfuhr, sagt er: »Das wäre schon wieder ein neuer Film.« Den hätte auch Dieter Finger gern gesehen. Irgendwie ist er traurig, dass die Filmerei zu Ende ist: »Fotos haben so was Kaltes, aber ein Film, das ist Leben.«
»Fang nie an aufzuhören« hat Barbara Junge irgendwann auf diesen Zettel geschrieben. Seit den 80er Jahren arbeitet sie als Ko-Regisseurin mit ihrem Mann zusammen. Gerade haben beide ihren neuesten Film fertiggestellt, der seine Premiere im nächsten Jahr auf der Berlinale haben wird. Doch die Zeiten für den Kino-Dokumentarfilm »sind schwierig geworden«, sagt der Regisseur. 90 Prozent des Filmmaterials haben sie im Kasten, die Zeit in der DDR, die Wende. Aber in den letzten Jahren können sie ihren »Kindern« kaum noch mit der Kamera folgen. Dabei ist ihre Reihe über die »Kinder von Golzow« längst eine deutsch-deutsche Geschichte geworden. Die Fördergelder sind rar, das »macht die Produktion auf die klassische Art heute kaum noch möglich«. Darum versucht er alle Möglichkeiten ausschöpfen: »Punktuell Kino machen und das Fernsehen einbeziehen.« Dabei sei es nicht einfach, einen Sendeplatz in den Dritten Programmen der ARD zu bekommen. Hier laufen zwar Dokumentarfilme, »aber die dürfen nicht über 90 Minuten gehen. Unsere sind über zwei Stunden lang.«
Winfried Junge war 26, als er den ersten Film über die Golzower drehte: »Wenn ich erst zur Schule geh'«. Nur 17 Minuten, die Aufmerksamkeit erregten. Ein purer Dokumentarfilm, wurde gesagt. Junge wandte erstmals das Prinzip der Beobachtung an, die Beobachtung des wahren Lebens. Die meisten DEFA-Dokumentarfilme seien bis dahin ziemlich durchinszeniert gewesen. Sie zeigten nicht, was ist, sondern wie es sein soll, erinnert er sich. Junge brach damit und brachte es im Laufe der Jahre zur Perfektion.
»Der Dokumentarfilm ist durch das kommerzielle Fernsehen auf den Hund gekommen, weil nur noch das gemacht wird, was Quote bringt«, ärgert sich Barbara Junge. »Was dazu geführt hat, dass viele Zuschauer das so genannte Reality-TV für den Dok-Film halten.« Dennoch ist sie optimistisch: »Der Dokumentarfilm wird noch gebraucht, für das, was man nicht inszenieren kann.« Der Erfolg ihrer Reihe gibt ihnen Recht. Die Bilder des Alltags der »Kinder von Golzow« sind es, die den Zuschauer immer wieder faszinieren und erstaunen. Die Offenheit und Ehrlichkeit, mit der diese Golzower, ihre Familien und Freunde ihn daran teilnehmen lassen.
Die Filme über die »Kinder von Golzow« wurden auf allen Kontinenten gezeigt. Das Goethe-Institut hat sie in seinem Programm. Auf dem Internationalen Dokumentarfilmfestival »Yamagata« 1995 in Japan erhielten die Junges für ihren Werkstattfilm »Drehbuch: Die Zeiten« gleich zwei Preise. Chinesische Filmleute sahen ihn in Hongkong und waren begeistert. Die Folge: In Peking lief ein Elf-Stunden-Golzow-Film-Marathon.
Filmtipp: Anlässlich des 40-jährigen Film-Jubiläums zeigt das Fernsehen des Senders Freies Berlin B 1 folgende Filme aus der Reihe: 29. August, 22.45 Uhr: »Wenn ich erst zur Schule geh'«, ab 23 Uhr: »Ein Mensch wie Dieter. Golzower«. 5. September, 22.45 Uhr: »Die Geschichte des Onkel Willy aus Golzow«. 12. September, 22.45 Uhr: »Was geht euch mein Leben an. Elke - Kind von Golzow«. 19. September, 22.45 Uhr: »Da habt ihr mein Leben. Marie-Luise - Kind von Golzow« (B1 ist täglich zwischen 18 und 2 Uhr auch über Satellit Astra zu empfangen.)
Ausstellungstipp: Ständige Filmausstellung »Kinder von Golzow« in Golzow/ Oderbruch. 850 Fotos, Originaldokumente, eine 35-Millimeter-Kamera, ein Landfilmprojektor mit Leinwand, alte Schulbücher und eine Schulbank aus den 60er Jahren vermitteln Geschichte zum Anfassen. Und wer sich die Langzeitdokumentation in Gänze anschauen möchte, kann das dort tun - auf Video. Öffnungszeiten: Mai bis Oktober, Dienstag und Donnerstag von 12.30 bis 17.30 Uhr, sonst bitte Voranmeldung unter Tel./Fax: 033472/51464.
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