Vor einem Jahr wählte die afghanische Loya Jirga Hamid Karzai an die Spitze der Übergangsregierung - doch das Verhältnis der Afghanen zu ihrem Interimspräsidenten bleibt gespalten.
Trotz des Anschlags auf deutsche ISAF-Soldaten in Kabul ist die Sicherheitslage in Afghanistan besser als viele Beobachter vor einem Jahr befürchtet haben. Es ist kein neuer Bürgerkrieg ausgebrochen. Das so genannte Terror-Dreieck aus Al Qaida, Taliban und der Islamischen Partei Gulbuddin Hekmatyars bewegt sich keineswegs nach Guerilla-Art wie ein Fisch im Wasser. Es ist nicht zu offenen Aktionen in der Lage. Genau deshalb die Autobombe gegen den ISAF-Bus: Dafür braucht man keine Massenbasis, nur ein paar Kilo Dynamit und ein paar Willige, die sich und andere in die Luft sprengen.
Allerdings kennen die Terrorgruppen auch die Sicherheitsreflexe des Westens genau. Ein paar ungezielte Raketen reichen aus, dass in ganzen Regionen der Wiederaufbau eingestellt wird. Entlang der wichtigen Straße Kabul-Kandahar etwa arbeiten keine Minenräumer mehr, nachdem Vermummte auf Motorrädern Drohungen ausstießen. Hier rächt sich ein Grundfehler, den die internationale Gemeinschaft nach dem Fall des Taliban-Regimes beging: das ISAF-Mandat auf Kabul und Umgebung zu begrenzen.
Dennoch fällt die Bilanz von einem Jahr Karzai-Regierung nicht so schlecht aus. Afghaninnen dürfen wieder arbeiten und lernen. Eine neue Währung wurde eingeführt. Über zwei Millionen Flüchtlinge kehrten zurück. Ein für alle verbindlicher gesetzlicher Rahmen samt Verfassung ist in Arbeit. Zivilgesellschaft und politische Landschaft beleben sich. Das Land ist nicht mehr isoliert von der Welt, besitzt wieder eine Regierung mit gewisser Legitimation.
Aber diese Erfolge sind relativ. Die von den Taliban ausgeschalteten Kriegsfürsten sind wieder da. Opiummohn wird angebaut wie nie zuvor. Mädchenschulen sind Ziele von Anschlägen. Jeder zehnte Flüchtling ging wieder zurück nach Pakistan, weil es in Afghanistan an Nahrung, Wohnung, Bildung, Arbeit, Infrastruktur fehlt. Die Kommission für die Reform des Staatsdienstes, die die Monopolisierung des Apparats durch Mudschaheddin-Fraktionen brechen sollte, wurde erst am Dienstag per Dekret wieder belebt. Vor der Währungsreform liefen die regionalen Gelddruckereien auf Hochtouren und der Umtausch legalisierte das Schwarzgeld, mit dem im Juni 2004 für die Wahlen Stimmen gekauft werden können.
Die Souveränität der Regierung wird auch von den USA-Streitkräften untergraben, die auf ihren Basen bei Kabul und in Kandahar Exterritorialität besitzen und sich bei ihren Anti-Terror-Aktionen wie eine Besatzungstruppe aufführen. Bedrohlich für Afghanistan sind auch Tendenzen der Re-Fundamentalisierung im Innern oder im Umkreis der Übergangsregierung sowie die sinkende internationale Aufmerksamkeit für das Land nach dem Irak-Krieg. Es bildete sich ein Teufelskreis aus (Un-)Sicherheit und (fehlendem) Wiederaufbau. Afghanistans Friedensprozess steht wieder einmal auf Messers Schneide. Sogar ein Abzug der UNO scheint nicht mehr undenkbar. Das kann nur vermehrtes - und nicht verringertes - Engagement der Weltgemeinschaft verhindern.
So gespalten wie die Bilanz der Übergangsregierung ist auch das Verhältnis der Afghanen zu Karzai. »Karzai hat sich an die Amerikaner und die Panjschiris verkauft«, wettert der ostafghanische Kriegsfürst Patscha Khan Zadran, der wie viele andere das Machtmonopol der Fraktion um Verteidigungsminister Fahim kritisiert. »Karzai ist auf dem richtigen Wege, er hatte nur noch nicht genug Zeit«, meint dagegen Distriktgouverneur Seyyed Omar aus Zamkani, ebenfalls Paschtune. »Sein Mandat muss verlängert werden.«
Derweil sind sich alle internationalen Beobachter einig, dass eine personelle Alternative zu Karzai nicht existiert. Nur viele Paschtunen sehen das anders. Sie wünschen sich eine Rückkehr des hochbetagten Exkönigs Muhammad Zahir Schah als konstitutioneller Monarch oder gar als »einfaches« Staatsoberhaupt ohne dynastische Folgen. Für letzteres treten sogar breite Kreise der jungen demokratischen Opposition ein. Doch schon während der Loya Jirga schien diese Möglichkeit die USA - und Iran - derart zu erschrecken, dass sie alles unternahmen, sie zu verhindern. Zunächst kündigte der USA-Sondergesandte Zalmay
Khalilzad an, der Exmonarch stünde für ein Staatsamt nicht zur Verfügung. Richtig ist, dass er nicht als Konkurrent Karzais antreten wollte. Zuvor hatte in der Loya Jirga eine Petition kursiert, in der Zahir Schah zur Kandidatur aufgefordert wurde und die laut ihren Initiatoren schon eine reichliche Mehrheit der Abgeordneten unterschrieben hatte. Als Zahir Schah dann seine Eröffnungsrede hielt, wurde dem afghanischen Fernsehen »zufällig« der Strom abgeschaltet - wie schon bei der Rückkehr des Monarchen. Das Spiel war derart zynisch und sichtbar zugleich, dass die paschtunische Bevölkerungsmehrheit ihr Vertrauen in die neue Regierung sofort verlor. Ob Karzai es zurückgewinnen kann, wird über sein weiteres Schicksal entscheiden.