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Die Gefangenen der Literatur

Carlos Ruiz Zafón: »Der Schatten des Windes« ist packend bis zur letzten Seite

  • Michael Kegler
  • Lesedauer: 4 Min.
Eine Geschichte hinter der Geschichte, hinter zerfallenden Fassaden und schweren Holztüren, im Labyrinth der Gassen Barcelonas, das zur Entsprechung eines labyrinthischen Archivs für »vergessene Bücher« wird, erzählt Carlos Ruiz Zafón in seinem bereits jetzt als Erfolgsbuch gefeierten Roman »Der Schatten des Windes«. Es ist die Geschichte einer Initiation, die mit der Konkretisierung einer wunderbar melancholischen Metapher beginnt: An einem verhangenen Sommermorgen des Jahres 1945 wird der zehnjährige Daniel »durch die Straßen eines Barcelonas, auf dem ein aschfarbener Himmel lastete«, geführt, um den »Friedhof der Vergessenen Bücher« kennen zu lernen. Aus den schier endlosen Regalen dieses geheimen, mythischen Ortes darf er sich - so will es der Brauch - ein Buch auswählen, für das er allein die Verantwortung übernimmt. Er wählt ein scheinbar komplett unbekanntes Buch eines vollkommen in Vergessenheit geratenen Autors: »Der Schatten des Windes«. Autor ist ein gewisser Julián Crax. Doch schon bald interessieren sich auch andere Personen für das Buch. Der erste ist ein Buchhändler-Kollege seines Vaters, der ihm viel Geld für den Roman bietet. Daniel lehnt ab, und das ist seine wirkliche Eintrittskarte in die Welt der Literatur, der Literaturbesessenen, der Gefangenen der Literatur. Wie es sich herausstellt, ist sein Exemplar das letzte noch existierende einer Auflage, die seinerzeit fast niemand kaufte. Der Autor ist verschollen, die Aussagen über seinen Verbleib widersprechen sich. Doch eins ist sicher: Ein mysteriöser Fremder, der sein Gesicht mit einer Ledermaske verbirgt und die Identität einer von Crax' Romanfiguren angenommen hat, versucht systematisch, alle Bücher in seinen Besitz zu bekommen, um sie zu vernichten. In seiner Gestalt greift der Roman zum ersten Mal ganz real und gewaltsam in Daniels Leben ein und zwingt ihn geradezu zur Recherche. Das ist die »Verantwortung«, die er für das Buch übernommen hat. Bald stellt sich heraus, dass es neben der Bruderschaft der Buchhändler und Antiquare vom »Friedhof der Vergessenen Bücher« auch ein Netzwerk von Menschen gibt, deren Leben von Crax, dem vergessenen Autor, in andere Bahnen gelenkt wurde. Doch vor allem stößt Daniel bei seiner Suche auf weitere Geheimnisse, auf Lügen, verschleierte Dramen, Intrigen. Ein Krimi um einen Roman: Die Geschichte beginnt sich mit seiner eigenen zu verweben, wird zur Lebensnotwendigkeit und zugleich zu einer lebensbedrohlichen Gefahr. Denn auch die reale Geschichte bricht ein in das Geflecht der Intrigen und Spekulationen. Es ist die Zeit des faschistischen Franco-Regimes, und wer zu viel fragt, gilt als verdächtig, und wer mit den falschen Leuten verkehrt, ist es erst recht. Ein Stadtstreicher, den Daniel als Gehilfe in die Buchhandlung des Vaters geholt hatte und der zu seinem engsten Vertrauten wurde, ist einer dieser Verfolgten des Franco-Regimes. Ständig auf der Flucht, ist für ihn das blitzschnelle Täuschen und Erfinden von Identitäten das einzige Mittel geworden, seinen Häschern zu entkommen. Er ist ein großer Geschichtenerzähler, ein ganz realer Meister der Fiktion. Sein tragischer Lebensweg - ebenso mysteriös wie der des Julián Crax - wirkt wie ein Komplemetär zu der scheinbar romantischen Tragik des erfolglosen Literaten, den allein seine verzweifelte Liebe ins Unglück trieb. Immerhin: Daniels Liebe erfüllt sich nach labyrinthischen Irrwegen. Sie ist als Triumph über seinen Franco-treuen Nebenbuhler aus »besserem« Haus auch ein symbolischer Sieg über die Verhältnisse. Ein Happy End, das - wie sollte es anders ein - wiederum ein »Nachspiel« hat. »Der Schatten des Windes« handelt, wie es im Roman selbst heißt, »von Liebe, Hass und den Träumen, die im Schatten des Windes hausen«. Material für den Klappentext eines Schundromans, aber eben auch für ein rasantes Spiel mit Realitäten und ihren Abbildern. Carlos Ruiz Zafón, der in Deutschland bisher nur einmal als Jugendbuchautor in Erscheinung getreten war, ist - für uns in der hervorragenden Übersetzung von Peter Schwaar - mit diesem Roman ein grandioses und schwärmerisches Manifest für die Literatur selbst gelungen, die, bei allen erzählerischen Höhenflügen, niemals unverbindlich sein kann und - in diesem Falle zumindest - im mehrfachen Wortsinne packend ist bis zur letzten Sekunde. Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes. Aus dem Spanischen von Petr Schwaar. Insel Verlag. 527 Seiten, gebunden, 24,90 EUR.
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