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  • Politik
  • Was mir in den Sinn kam, als ich hörte, daß am Sonntag Tengis Abuladse starb

,Bei diesem Festival, da muß aufpassen, da läuft auch die ,Reue

59 man Von HANS-DIETER SCHUTT

  • Lesedauer: 6 Min.

Am 28. Oktober 1987 veröffentlichte ich als Chefredakteur in der FDJ-Tageszeitung „Junge Welt“ einen Artikel zu Tengis Abuladses Film „Reue“, unter dem Titel „Kunst und Geschichtsbewußtsein“ Er lieferte praktisch die nachträgliche ideologische Begründung für das DDR-Verbot dieses Films. Ein paar Tage später zog das ND zum gleichen Thema nach.

Abuladses Werk, in der Sowjetunion ein aufwühlender Erfolg, war im Rahmen eines sowjetischen Filmfestivals spätabends im ZDF gelaufen. Mich erreichten nach Veröffentlichung des Artikels Hunderte von empörten und bitteren Leserbriefen, die gegen diesen Angriff auf Glasnost und Perestroika protestierten. (Wann immer in späterer Zeit von den Menschen die Rede sein würde, die gegen uns auf die Straße gingen - auch die Schreiber dieser Briefe mußten in den Demonstrationen mitgedacht werden; und eine statistische Auswertung in der „Jungen Welt“ ergab, daß von 729 Brief Verfassern immerhin 381 Mitglieder der SED bzw der FDJ waren.)

Keinen einzigen dieser Briefe gab ich zur Veröffentlichung frei. Ich beantwortete sie mit Variationen zum gedruckten Zeitungstext. Der „Reue“-Artikel geriet so zum Signum eines letzten propagandistischen Aufgebots gegen das weitere Einsickern sowjetischer Reformgedanken. Es führt ein gerader Weg zum „Sputnik“-Verbot, zum Ende.

Etwa vierzehn Tage vor Veröffentlichung, es war unmittelbar nach Erich Honeckers Besuch in der BRD, lud Politbüromitglied Joachim Herrmann zur Sitzung der Agitationskommissiön ins Zentralkomitee.'- Auf der Tagesordnung^ stand die Auswertung dieser Reise.

Herrmann machte uns in scharfem Ton darauf aufmerksam, es habe sich um einen Besuch beim „Klassenfeind Nummer eins“ gehandelt. Einer „Euphorie über irgendwelche menschliche Erleichterungen“ müsse gegengesteuert werden. „Wir wollen keine Toten an der Grenze, aber man muß durch die richtige Tür gehen. Und wann die auf- oder zugeht, bestimmen nach wie vor wir!“ In dieser Frage brauchte die SED „kein neues Denken“

Herrmann sprach vom „Abschluß eines langen Kampfes für Anerkennung und Bedeutung der DDR“, die „grobgestrickte Kohl-Rede“ sei hilf-

reich gegen Illusionen gewesen. Deutschland-Experten der BRD, so das Politbüromitglied, stellten sich vor, „daß durch menschliche Kontakte und durch die Verbreitung ihrer bürgerlichen Ideologie unter DDR-Bürgern eines Tages unsere Republik wie ein reifer Apfel in den Schoß der BRD fällt und so ein großes imperialistisches NATO-Deutschland entsteht. Und da kommt

ihnen Gorbatschow als Trojanisches Pferd gerade recht. Aber daraus wird nichts.“

Auf dieser Sitzung hörte ich erstmalig, und zwar im Kontext mit dem Honecker-Besuch in der BRD, „dort kommt jetzt bald so ein sowjetisches Filmfestival im Fernsehen, da muß man aufpassen, da läuft auch die ,Reue'“ Daß Außenminister Schewardnadse die

Produktion des Films von Abuladse unterstützt habe, zeige nur, „was die für Probleme haben“ und daß ein Politbüromitglied eigentlich etwas dafür tun müsse, die eigene Geschichte „sauber“ zu halten.

Auf dieser Sitzung wurden, was die Medien betraf, Weichen für den verschärften ideologischen Kampf gestellt. Erwiesene Flexibilität in Richtung Westen lieferte den Motivationsschub für wachsende Selbstsicherheit nach Osten und damit nach innen. Was nichts anderes hieß: Härte zu demonstrieren. Man habe so viele Gorbatschow-Reden gedruckt, sagte Herrmann, die Leute hätten langsam genug, da solle keiner sagen, wir unterdrückten, was der KPdSU-Generalsekretär sage.

Ich erwähne diese Sitzung, weil sie etwas von der wachsenden Gehässigkeit und Häme widerspiegelte, mit der im internen Bereich der Medien-Führung über die sowjetische Entwicklung gesprochen wurde.

Der Vorgang selbst, der zum Artikel in der „Jungen Welt“ führte, begann mit einem Anruf von Egon Krenz in der Redaktion. Er bestellte mich, es war nach einer Politbürositzung, ins Zentralkomitee und fragte, ob ich mir anhand des Films von Abuladse einen Artikel gegen die Gleichsetzung von Hitler und Stalin vorstellen könne. Das konnte ich. Ein Filmkritiker solle diesen Artikel aber nicht verfassen, es müßte schon „hochangebunden“ sein.

Das war einer jener Aufträge, die die FDJ-Führung in ihrer Funktion als „Helfer und Kampfreserve der Partei“ des öfteren bekam; dahinter steckte nicht selten der Versuch, die ideologische Reizbarkeit im Lande, vor allem aber die Reaktion in den Westmedien zu testen und speziell auf kulturellem Gebiet „Linie zu machen“ (Aber auch das gehört zur Wahrheit: Ein Jahr später wurde fast ein gesamtes sowjetisches Filmfestival aus den Kinos genommen, und der 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, Eberhard Aurich, lehnte die „Bitte“ Honeckers ab, der Jugendverband möge doch Protest gegen das Festival organisieren und so den Anlaß für die Absetzung bieten.)

Am Gespräch bei Krenz nahmen die beiden Sekretäre des Zentralrats der FDJ Hartmut König und Jochen Willerding teil. Beide warnten vehe-

ment vor dem Artikel; besonders unter Intellektuellen würde damit eine» gefährliche Lawine losgetreten. Man dürfe die Wirkung des Films in der Sowjetunion, also seine „befreiende Wirkung“ (Willerding) nicht unterschlagen, wir würden „sowjetisches Gefühl beleidigen“; König meinte, „eine Trennung von Thema und Ästhetik“ schade der Argumentation, und außerdem würden sich die Leute fragen, wieso wir einen Film besprechen, der in einem „Sender läuft, den es nur bei Schnitzler gibt“

Krenz wurde unsicher. Hoffnung, mit einem schnellen Artikel in der FDJ-Zeitung Pluspunkte auf der zweiten Etage im ZK zu sammeln, geriet wohl in Konflikt mit bösen Ahnungen, wie sie König und Willerding ausgemalt hatten. Vielleicht wäre der Eklat ausgeblieben, hätte ich mich selber in dem Moment gebremst, aber so schlug ich nach weiterem Drängen von Egon Krenz vor, einen Text anzubieten und anhand dessen zu entscheiden. Der Artikel wurde Honecker vorgelegt, nach wenigen Stunden kam er zurück, gegen entscheidende Kürzungen und Ergänzungen wehrte ich mich nicht, und so erschien der Beitrag und tat seine Wirkung.

Wenn ich über diesen Artikel nachdenke, bleibe ich stets an der Frage hängen, ob ich ihn wider besseres Wissen geschrieben habe. Ich meinte dieser Frage schon damals ausweichen zu können, indem ich mir sagte, ich schreibe ihn wider anderes Wissen. Der Klassenstandpunkt, den Glasnost gefährdete, galt mir als besseres Wissen; es war ein Wissen, das,sich unbequemer,, Wahrheiten entledigte, indem jedem Widerspruch die Chance zur Öffentlichkeit genommen wurde. Auch in einem selbst. So offenbarte sich auch in diesem Falle Ideologie als das, was sie immer ist: falsches Bewußtsein. Zweifeln war mit Schwanken identisch, und jene Arroganz gegen tieferliegende Schichten der Wahrheit war nichts weiter als uneingestandene Angst vor irreparablen Rissen im festgefügten Zentralismus.

Die publizistische Reaktion auf Abuladses Film bleibt ein Beleg: Kunst ins Korsett eines ideologischen Modells zu zwingen, das mehr und mehr Realität zu ersetzen hatte, muß sich das Zeugnis der Kulturlosigkeit gefallen lassen.

Das fällt mir über mich ein, da Abuladse gestorben ist, aber seine „Reue“ bleibt.

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