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»Alle sind gestorben. Tanja ist allein«

Vor 60 Jahren wurde Leningrad befreit - nach 900 Tagen deutscher Blockade

  • Christian Tegethoff
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Januar ist für St. Petersburg ein ganz besonderer Monat. In diesen Monat fallen zwei für die Stadtgeschichte wichtige Gedenktage: am 18. Januar die Stadtgründung, am 27. Januar die Befreiung von deutsch-faschistischer Blockade. Anders als bei den Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag von St. Petersburgs im vergangenen Jahr ist der Anlass für zahlreiche Veranstaltungen und Treffen dieser Tage kein fröhlicher.
Ehemalige Rotarmisten, Überlebende der Blockade und Angehörige der Opfer gedenken der Ereignisse eher im Stillen. Die Erinnerungen schmerzen auch 60 Jahre danach. Die 900 Tage währende Belagerung hatte eine Million Opfer gefordert. Und doch: Das Gedenken paart sich mit Stolz - Stolz auf Widerstand und Behauptung. Das Beispiel der Kämpfer von Leningrad, so die Petersburger Gouverneurin Valentina Matwijenko, könne noch heute dazu beitragen, »die Jugend in Liebe zum Vaterland zu erziehen«.
Tanja Sawitschewa
Shenja ist gestorben...
Großmutter ist gestorben...
Mama am 13. Mai...
... Tanjas Tagebuch
Das Drama in Leningrad nahm seinen Anfang mit dem schnellen Vorrücken der Heeresgruppe Nord, nachdem die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die Sowjetunion heimtückisch überfallen hatte. Scheinbar unaufhaltsam marschierten die deutschen Verbände auch auf Leningrad zu, das den Sowjetbürgern als »Wiege der proletarischen Revolution« galt. Die Bahnlinie Moskau-Leningrad erreichte die Wehrmacht Mitte August. Als auch Schlüsselburg trotz heftigen Widerstands der Roten Armee verloren ging, war Leningrad fast völlig vom Hinterland abgeschnitten. Lkws mit Munition und Lebensmitteln erreichten die eingeschlossene Stadt nur mehr über eine höchst gefährliche Route, die über das Eis des Ladoga-Sees führte. Die Eroberung Leningrads schien unmittelbar bevorzustehen. Doch dann stoppte Hitler den Vormarsch. Nach neueren Forschungen der Geschichtswissenschaft habe er die Stadt an der Newa nicht erobern, sondern aushungern wollen. Schon in seiner programmatischen Schrift »Mein Kampf« hatte der spätere »Führer« die Menschheit in drei Klassen eingeteilt: An der Spitze stünden die (deutschen) »Herrenmenschen«, denen zugedacht sei, die »Sklavenrassen« zu beherrschen, zu denen er die Slawen, Polen und Russen, die Juden, »Zigeuner« und »Neger« rechnete. Diese Menschenverachtung und Selbsterhöhung des »arischen Volkes« gipfelte 1940/41 im monströsen Plan, 30 Millionen Sowjetbürger dem Hungertod auszuliefern. Die Vernichtungsstrategie sah die Besetzung der fruchtbaren Ukraine vor. Ihre Ernteerträge sollten in das »Reich« abgeführt werden, um die wegen der englischen Seeblockade angespannte Ernährungslage in Deutschland zu lindern. Zur Realisierung dieses Vorhabens mussten nur noch die landwirtschaftlichen »Zuschussgebiete« der Sowjetunion »abgeriegelt« werden - ihre Einwohner sollten schlicht verhungern. Der bis dahin beispiellose Plan richtete sich gegen die Bevölkerung der »Waldzone« (Nord-, Mittel- und teilweise Belorussland), vor allem aber gegen die Großstädte im europäischen Teil der Sowjetunion: Moskau und Leningrad. Die Realisierung des Ausrottungsplans erwies sich zum Glück als utopisch. Die schwachen deutschen Sicherungstruppen konnten nicht einfach Millionen von Menschen »abriegeln« und verhungern lassen. Lediglich in Leningrad erlaubte die Frontlage die Umsetzung des Genozids. Hitler ordnete am 29. September 1941 an: »Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.« So saßen ab dem Spätsommer 1941 drei Millionen Menschen in einer tödlichen Falle. Niemals zuvor hatte eine Stadt dieser Größe erlitten, was Leningrad während des Winters 1941/42 widerfuhr. So verlustreich auch die Bombardierung Londons war, nicht jeden Tag war Fliegeralarm; und die britische Metropole war nicht wie Leningrad von ihrer Umgebung nahezu hermetisch abgeriegelt. Am 2. September 1941 wurden die Lebensmittelzuteilungen erstmals gekürzt - auf 600 Gramm Brot für Arbeiter, 400 Gramm für Büroangestellte und 300 Gramm für Kinder, von denen 400000 in der Stadt lebten. Bald mussten dem Brot Sägemehl und Leinschrot beigemischt werden. In einem Lagergebäude am Hafen entdeckten die Eingeschlossenen 2000 Tonnen Schafdärme, sie wurden zu einer übel riechenden Sülze verarbeitet, deren Gestank durch den Zusatz von Gewürznelken neutralisiert werden musste. Im November 1941 erreichten die Lebensmittelzuteilungen den Tiefstand: Nur Arbeiter, die die kriegswichtige Produktion am Laufen halten mussten, bekamen jetzt noch 255 Gramm Brot täglich. Bald gab es aber auch dies nicht mehr. Die Belagerten versuchten auf jede erdenkliche Weise selbst für Nahrungsmittel sorgten: In den vielen großen Parks der Stadt bauten sie Gemüse an, vor der Isaak-Kathedrale, wo einst Rosen geblüht hatten, ernteten sie 1942 Kohlköpfe. Dennoch: Die Not wurde immer größer. Die verzweifelten Leningrader aßen nun buchstäblich alles, auch die geliebten Haustiere. Manche ernährten sich von einer stinkenden Gelatine aus Kalbshäuten, die man ebenfalls in einem Lagerhaus entdeckt hatte. Allein im Dezember 1941 starben 52000 Menschen, im Januar 1942 täglich bis zu 4000 Männer, Frauen und Kinder. Die damals elfjährige Leningraderin Tanja Sawitschewa führte in dieser Zeit ein Tagebuch. »Shenja ist gestorben um 12.30 Uhr morgens, 28. Dezember 1941«, schreibt das Mädchen, und weiter: »Oma ist gestorben, 3 Uhr mittags, 25. Januar 1942«. Es folgten Leka, Onkel Wassja, Onkel Lescha und im Frühjahr 1942 als letzte »Mama«. Da kritzelt das Mädchen: »Die Sawitschewitschs sind gestorben. Alle sind gestorben. Tanja ist allein.« Die Rote Armee blieb nicht untätig: Zwei Vorstöße im Rahmen der großen sowjetischen Winteroffensive Anfang 1942 führten dazu, dass sich die Situation in Leningrad etwas entspannte. Die Wehrmacht reagierte mit der Operation »Nordlicht«. Schließlich überraschte die Rote Armee mit einem Großangriff südlich des Ladoga-Sees. Bis zum Januar 1943 gelang es, eine Bresche in den Blockadering zu schlagen. Mit ihrem sechsten Entsatzversuch schließlich vertrieb die Rote Armee die Okkupanten. Dass Hitlers Plan der Auslöschung der Stadt an der Newa misslang, ist vor allem auch dem Durchhaltewillen der Leningrader zu verdanken. Jung und alt hatten Flak-Stellungen besetzt, Befestigungsanlagen ausgehoben, gemeinsam größtes Chaos zu verhindern versucht und sich gegenseitig Mut zugesprochen. In jenen 900 Tagen entstand ein Heldenepos.

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