Katastrophenalarm und -Stimmung in Sachsen-Anhalt und Thüringen / „Überflüssiges“ in Bayern und Hessen / Ausmaß derzeit noch unbekannt
Nachdem am Mittwoch in mehreren Kreisen der Länder Sachsen-Anhalt und Thüringen Katastrophenalarm gegeben worden war, hat sich die Situation teilweise zugespitzt. Im südthüringischen Empfertshausen forcierten die Naturgewalten ein erstes Todesopfer. Ein 59jähriger Mann wurde von der Strömung eines Baches mitgerissen und ertrank.
Über Rundfunk warnen die Behörden fast stündlich vor Leichtsinn. Saale und Werra schwollen an, die Bode führte mehr Wasser denn je, im hessischen Neckarsteinach „schwimmt“ die Altstadt, die lim bewegt den oberbayerischen Landkreis Pfaffenhofen.Schuld daran sind starke Niederschläge. Auf dem Brocken wurden an den vergangenen zwei Tagen 118 Liter pro Quadratmeter gemessen, auf der Schmücke registrierten die Meteorologen auf gleicher Fläche 100 Liter Regen. Auch Sachsen bekam gehörig Wasser ab. In Leipzig registrierte man 77 Liter - „Petrus“ übererfüllte damit das Monatssoll in nur 24 Stunden um fast das Doppelte.
ND-Reporter RENE HEILIG und HOLGER ELIAS erkundeten die Situation vor Ort.
Die Pret-a-porter des Harzes präsentiert sich derzeit sehr phantasielos; Mann, Frau, Kind, alle tragen derzeit Gummi - unten herum, möglichst bis zum Hals, Stiefel, oben drüber der schicke Ostfriesenpelz in uni-gelb. Als Accessires gelten Spaten, Sandsack und vor allem Schirme. Besser als Knirpse eignen sich die krückstock-ähnlichen. Man kann mit ihnen den aktuellen Wasserstand auf Straßen messen.
Nur das Hochwasser-Rückhaltebecken Kalte Bode habe eine kleine Reserve. „Doch die 250 000 Kubikmeter sind sicher gegen Abend zugeflossen, so daß auch diese künstliche Schwelle überschwemmt
wird.“
Der Wasserexperte, seit Dienstag 5 Uhr ununterbrochen auf den Beinen, kümmert sich vor allem um die kontinuierlichen Sicherheitsüberprüfungen der Systeme. „Wir nehmen derzeit natürlich Sondermessungen vor. Bislang ohne Beanstandungen.“ Etwas sauer ist Pape auf die Schaulustigen. „In dieser Situation laufen die wie die Hasen durcheinander, halten sich nicht an Absperrungen.“ Manche Zeitgenossen parken sogar unmittelbar auf der Staumauer, um die leichte Videoausrüstung ja keinen Meter tragen zu müssen. Stinkig wird Pape auch, denkt er an die Aufräumarbeiten der kommenden Tage. „Das Wasser hat nun alles mit sich genommen, was Menschen so abseits der Wanderwege vergessen haben: Plaste, Papier, Flaschen, Autoreifen und Bauschutt...“
Jens Müller vom Quedlinburger Landratsamt dagegen atmete gestern hörbar durch: „Noch einmal Schwein gehabt, die befürchtete Flutwelle blieb aus. Erst verzögerte sich das Drama,..doch, das,..was. dann, kam, war nicht so schlimm, wie erwartet. Die ^Deiche, der Bode halten, obwohl der Fluß auf 2, 5 Meter über normal anstieg.“
Noch am Mittwoch war prognostiziert worden, daß der Bode-Schwall auf das 77fache ansteigen könnte. So erwartete man, daß rund 5 000 Menschen ihre Häuser verlassen müßten. Der Ortsteil Lindenberg ist ohnehin übel dran. Hier gab es von einer Minute zur anderen plötzlich keine Straßen mehr Die braune Brühe schwappte zunächst durch Kellerfenster, dann stieg sie über Türschwellen, um sich in Wohnzimmern und Küchen zu verbreiten. Bürgermeister Hoßbach versuchte zu retten, was zu retten war Man begegnete ihm mit allerlei Hausrat an Bord eines kleinen LKW Auf dem Kopf eine Baseball-
Mütze mit dem Aufdruck „Captain“
Auch in Thale war die Stadtverwaltung rund um die Uhr beschäftigt. Frauen füllten Sandsäcke, zu schnell war der Vorrat aufgebraucht. Sack-Verwalter im Magdeburger Innenministerium gaben am Mittwoch an, daß 30 000 gefüllte Beutel ausgelegt wurden und weitere 60 000 bereit lägen. Orten wie Alexisbad und Silberhütte konnte man damit nicht mehr helfen. Sie sind eingeschlossen oder von der Versorgung mit Wasser und Strom abgeschnitten.
Am Donnerstag maß man knapp 40 mal mehr Bode-Wasser als üblich. Die Innenstadt von Quedlinburg ist nicht mehr akut gefährdet, bestätigten auch Experten des Technischen Hilfswerkes, das in Sachsen-Anhalt seine erste große Bewährungsprobe bislang bestanden hat. Insgesamt sind im Quedlinburger Landkreis 700 Helfer im Einsatz. Die Männer und Frauen der Freiwilligen Feuerwehren tragen die Hauptlast. Auch 100 Magdeburger Bereitschaftspolizisten und 230 Bundeswehrler tun, was sie können oder rasch lernen. Wo der Strom am meisten drückt, bauen sie Sandsack-Barrieren. So dichtete man auch Tankstellen ab und hofft, daß Wasser und Benzin kein, umweltunfreundliches Paar werden.
?'Bislang mußten'mir“30'Einwohner aus ihren Häusern evakuiert werden. Doch wie groß der Schaden wirklich sein wird, wenn sich das Wasser zurückgezogen hat, wagte Müller nicht zu schätzen. „Allein das Verkehrschaos führt zu Produktionsausfällen. Kaum ein Bus, kaum ein Zug fährt noch. Die einzig befahrbare Strecke ist die von Halberstadt über Westerhausen nach Quedlinburg.“
Zur Weihnachtszeit suchte der Rhein die Einwohner Kölns heim. Man versprach schnelle Hilfe, schickte unmittelbar 10 Millionen Mark Soforthilfe für die Geschädigten. In Sachsen-Anhalt hörte man derartiges bis zum Donnerstag noch nicht. Jens Müller aus dem Quedlinburger Amt meinte: „Jeder einzelne Fall muß ge-
prüft werden. Es fragt sich, ob der Kreis oder das Land einspringen muß.“ Vielleicht sei das eine Aufgabe des Bundes, betonteder Kommunalpolitiker.
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