Der Mensch ist aus krummem Holz...
Zum 200. Todestag von Immanuel Kant - die Anthropologie des Königsberger Philosophen
Brandt: Viele der von Kant aufgestellten Beobachtungen über die menschliche Natur sind uns heute ebenso unangenehm wie Goethe und Schiller zur Zeit der Weimarer Klassik oder später den Romantikern. Kant sah den Menschen immer als ein »krummes Holz« an. Er verfiel nie der Vorstellung, der Mensch sei mit Fähigkeiten ausgestattet, um in ewigem Frieden zu leben. Vielmehr betrachtete er ihn als ein ambivalentes Wesen, das sich einerseits als freiheitsbegabt offenbart und andererseits als miserable Kreatur. Permanent in Konflikt mit sich selbst und anderen, muss der Mensch ständig gegen das Böse ankämpfen, das in ihm lauert.
Würden Sie sagen, dass Kants Anthropologie die Unveränderbarkeit der Natur des Menschen festschreibt?
Mit David Hume, Voltaire und den anderen großen Aufklärern ist Kant darin einig, dass die Natur des Menschen in ihren Grundzügen unveränderbar ist. In unserem Vermögen liegt es jedoch, die Umwelt, die gesellschaftlichen Bedingungen, die Rechtsverhältnisse und auch die Erziehung sowie den Stand der Aufklärung zu verbessern. Das heißt, die menschliche Natur in ihrer grundsätzlichen Beschaffenheit ist so, dass sie in einer Situation wie beispielsweise im heutigen Westeuropa, wo niemand vor Hunger auf der Straße stirbt, ihren wölfischen Part nicht offen legt. Das kann sich aber im Fall einer radikalen Verschärfung der sozialen Lage, eines brisanten ökologischen Notstandes oder gar eines Krieges unvermittelt ändern. Der Wolf lauert immer in uns.
Ist es legitim, Kants Anthropologie den Status eines Vorläufers der später auf breiter Ebene einsetzenden Erforschung der menschlichen Natur bis hin zur Psychoanalyse zuzubilligen?
Ja und nein. Die Natur des Menschen wurde schon immer auf vielfache Weise beobachtet und protokolliert. Bereits bei den Vorsokratikern in der Antike finden sich Schriften über die Natur des Menschen; es gibt medizinische Traktate zur Anthropologie und philosophische, die letzteren beispielsweise in der Stoa. Insofern ist Kant zugleich originell in der Systematik und dem Reichtum seiner Menschenkenntnis, andererseits steht er jedoch in einer ganz breiten Tradition der systematischen Menschenbeobachtung.
Was seine Anthropologie auszeichnet, das ist die ganzheitliche Sicht auf die menschliche Natur. Kant geht vom Ich aus und endet in der Bestimmung des Menschen und der Menschheit im Ganzen. Diese Vision vom Individuum zum Weltbürger, vom Geschick des Einzelnen zur Geschichte der Menschengattung insgesamt wird in der heutigen Detailforschung nicht mehr glaubhaft erkannt und dargestellt. So finden Bemühungen, den Menschen unter Berücksichtigung der historischen und geographischen Bedingungen als Kosmopoliten in die Gesamtheit des Weltgeschehens einzuordnen, in den einzelnen empirischen Disziplinen kaum noch statt.
Als »literarisches Weltpanorama« haben Sie Kants Anthropologie einmal bezeichnet...
Man muss beides beachten, den durchgehend literarisch abgesicherten Charakter und den immer gegenwärtigen Blick auf das Ganze der Welt. Es ist erstaunlich, in welch hohem Maß die Kantischen »Beobachtungen« auf einer unermesslichen Literaturkenntnis fußen. Die Kultur, selbst die Moral wird durch Literatur vermittelt. Durch Lektüre und Studium wurde Kant zum Weltbürger ohne die zeitaufwändigen Umwege langer Reisen. Dazu trug natürlich auch die Handelsstadt Königsberg bei mit ihren vielen Völkern, die friedlich in ihr zusammenlebten, Juden, Polen, Balten, Russen, Engländer.
Inwieweit aber kann Kants Anthropologie angesichts der seit dem 18. Jahrhundert gewonnenen neuen Erkenntnisse noch Gültigkeit beanspruchen?
Das ist eine schwierige Frage. In Details der Aussagen über die Lebensformen der Einwohner von Sibirien, Indonesien oder Feuerland haben die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse natürlich alle Literatur der damaligen Zeit außer Kraft gesetzt. Auch wissen wir durch die Psychologie und Psychoanalyse heute mehr, wenn auch nicht grundsätzlich Anderes, über die menschliche Natur. Auf der anderen Seite stellt Kant die Einzelkenntnisse vom Menschen in einen kohärenten Gesamtkontext, der sich auf die moralische Bestimmung und Selbstbestimmung des Menschen bezieht - hierin liegt das Zentrum seiner Anthropologie und seiner Philosophie überhaupt. Ein derartiges Zentrum ist in den ständig wachsenden Einzelkenntnissen der Gegenwart schwer erkennbar; sie dienen allenfalls der Strategie der Selbsterhaltung, finden aber keine Orientierung in einem objektiven Zweck.
Was im Einzelnen muss an Kants Werk heute als überholt betrachtet werden?
Überholt ist zweifellos Kants Frauenbild. In den 200 Jahren seit seinem Tod hat sich die Frau gegen viele Hindernisse weitgehend emanzipiert und durchgesetzt gegen die Schablone eines unmündigen Wesens, das wie die Kinder über keine eigene Vernunft verfügt. Hier fällt Kant sogar unter das Niveau der zeitgenössischen Praxis, die Frauen mit selbstständig geführten Betrieben kannte, natürlich auch unter das Niveau von Platon, bei dem Frauen zu jedem Amt der Polis gelangen konnten.
Zum Anderen hat Kant die Technik unterschätzt. Er hat allen Fortschritt nur in der Moral und Metaphysik lokalisiert. Die technische Entwicklung dagegen, die zu seinen Lebzeiten schon zur ersten Industrialisierung führte, bleibt gänzlich ausgeklammert aus seiner Gesellschaftsanalyse. Dagegen war in England der neuzeitliche technische und ökonomische Prozess Gegenstand der Reflexion, danach auch in Frankreich. Allerdings konnte kein Autor voraussehen, dass die späteren Generationen technische Vernichtungskriege führen würden und auch demokratisch legitimierte Regierungen menschheitswidrige Waffen einsetzen. Es herrschte ein Vertrauen in den fortschreitenden Prozess moralischer und rechtlicher Aufklärung.
Handelt es sich bei diesem Kantischen Vertrauen um eine »idealistische Überhöhung« der tatsächlichen Realitäten, ja um eine Art »Prinzip Hoffnung«, geboren aus dem Geist jener Utopie, die durch die historische Erfahrung in keiner Weise gedeckt wird?
Utopie ist ein Wort, das bei Kant nicht einmal vorkommt. Der Mensch kann sich nach Kant in moralischer Hinsicht nur auf die Selbst-Bestimmung zu Sittlichkeit und Recht berufen. Er findet Aufgaben im realen Prozess der Geschichte vor sich, aber kein erträumtes Arkadien, das er überheblich gegen die Wirklichkeit hält und letztere aburteilt. Die Hoffnung wird in folgender Weise relevant: Wenn ich handle, wie ich handeln soll, ist dann der Ausgang völlig offen? Oder kann ich hoffen, dass das Gute nicht wie in Dantes Inferno vom Schatten des Bösen einfach verschluckt wird? Unsere Vernunft, meint Kant, kommt zu dem Ergebnis, dass der Welturheber Natur und Freiheit, Vernunft und Geschichte in einer Einheit begründet, so wie der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir letztlich auf eine einheitliche Vernunft hinauslaufen. Aber hier kann der Mensch nicht mehr zu einer ausweisbaren Erkenntnis gelangen. Wir können nur gelassen auf das Zusammenspiel hoffen.
Wie erklären Sie sich die bis heute anhaltende hartnäckige Abstinenz der Forschung gegenüber Kants Anthropologie?
Die Kant-Rezeption berücksichtigte zuerst vor allem die kritischen Werke. Die Anthropologie stand im Schatten der eigentlichen Philosophie. Zwar findet die kritische Philosophie innerhalb der Anthropologie ihre Reflexe, aber sie ist nicht der Ort, an dem sie systematisch entfaltet und begründet wird. Die späteren Zuwendungen zur philosophischen Anthropologie, vor allem im letzten Jahrhundert, wollten die systematische Philosophie, auch die Kantische, anthropologisch unterlaufen.
Ein heutiger Kritiker hat die Kantische Anthropologie als einen »anthropologischen Sonderweg« bezeichnet...
Das mag vielleicht auf einige Aspekte der Kantischen Anthropologie zutreffen, aber nicht auf das Werk insgesamt. Damit täte man ihm Unrecht. Gibt es denn eine Anthropologie außer oder neben der Kantischen, die den Menschen im Gang der bürgerlichen Gesellschaft treffender charakterisiert?
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