- Kultur
- Zum 100. Geburtstag des russischen Dichters Michail Sostschenko
Populärer „Schmierfink“
nist noch Sozialrevolutionär oder Monarchist, sondern einfach ein Russe“, hieß es in der Selbstdarstellung, mit der Sostschenko 1922 auf die Vorwürfe der Parteikritik sarkastisch reagierte. Die „Geschichten des Herrn Nasar Iljitsch Blaubauch“ hatten ihn gerade als einen Schriftsteller ausgewiesen, der den Leuten ungeniert aufs Maul schaute. Er brachte die Sprache der Straßen, Bahnhöfe und Dampfbäder in Feuilleton und Erzählung. Mancher Satz von ihm wurde zum geflügelten Wort. Sein Stil, von wortmächtigen Autoren wie Leskow und Samjatin inspiriert, ist vom Skas geprägt, einem der mündlichen Rede abgelauschten Monolog, der den Typ des Erzählenden er-
barmungslos preisgibt, „Ich, liebe Brüder“, sagt so ein Grigori Iwanowitsch in „Die Aristokratin“, „mach mir nichts aus Weibern, die mit Hut rumrennen. Wenn ein Weib mit Hut rumrennt, Seidenstrümpfe trägt, einen Goldzahn hat oder einen Mops im Arm, eine solche feine Dame ist für mich keine Frau...“
Dieser Stil hatte sich bald erschöpft. Sostschenko ging zu den größeren „Sentimentalen Erzählungen“ über, mit denen er den alten Liebes- und Bildungsroman parodierte. In „Eine schreckliche Nacht“ (1925) erzählt er „sehr knapp, in zehn Minuten, aber dennoch mit allen Einzelheiten“ - die Geschichte eines Musikers, der
solange seelenruhig den Triangel schlägt, bis ihn der Gedanke aufschreckt, es könnte ihn jemand zwingen, sein Leben zu ändern. Alle diese Erzählungen enden tragisch oder grotesk.
Seit dem Schriftstellerkongreß von 1934 suchte Sostschenko neue Wege. Er glaubte, daß er dem Leser mehr Lebenshilfe geben und Humor und satirische Bloßstellung auf ein Minimum reduzieren müsse. Die größeren Texte, die jetzt entstehen, sind von einem didaktischen Grundgestus geprägt. Das gilt für „Das Himmelblaubuch“ wie für „Schlüssel des Glücks“. Ausgerechnet diesen Sostschenko, der ehrlichen Herzens für den „Mas-
senleser ' schreiben wollte und den Schriftsteller als eine moralische Anstalt ansah, traf der Beschluß des Zentralkomitees vom August 1946. Der „Schmierfink“ habe mit den „Abenteuern eines Affen“ eine „Schmähschrift gegen das Sowjetleben“ fabriziert, hieß es dort. Die Geschichte von dem Äffchen, das nach einem Fliegerangriff aus dem Zoo in die Freiheit gelangt, von habgierigen Leuten gejagt wird, aber wieder zu dem braven Schüler Aljoscha Popow zurückfindet und sich fortan musterhaft verhält, mußte herhalten, um ein Exempel zu statuieren. Sostschenko und Anna Achmatowa standen für alle diejenigen am Pranger, die gehofft hatten, daß es nach dem Krieg zu einer
Liberalisierung kommen würde.
Als Sostschenko acht Jahr später bei einer Begegnung mit britischen Studenten das Schandurteil von 1946 ablehnte, begann die „zweite Runde“, die ihn fast um den Verstand brachte, wie die Achmatowa sagte. Doch Sostschenko zog sich nur in seine eigene Welt zurück. Seine Tagebuchaufzeichnungen aus den letzten Lebensjahren 1956/58 zeugen von einer ungebrochenen geistigen Kraft. So kommentiert er nach einem Gespräch mit Wassili Grossman die Kapriolen der Presse beim Erscheinen von Dudinzews Roman „Der Mensch lebt nicht von Brot allein“ mit den Worten, daß die Angst vor der Literatur, nach Araktschejew und Stalin, nun einen neuen Höhepunkt erreicht habe. Doch erst 1991 kamen die russischen Leser in den Genuß, Sostschenkos Werk ohne Kürzungen und Verfälschungen lesen zu können.
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