Das Voland-Evangelium als Weltentwurf
Weil er das „Reich der Wahrheit“ prophezeite und die „Theorie von den sympathischen Menschen“ verkündigte, habe Jeschua sterben müssen. Pilatus, der die Interessen des Römischen Kaisers vertrat, habe gar keine Wahl gehabt, eine andere Entscheidung zu treffen. So argumentiert an den Moskauer Patriarchenteichen Dr Theodor Voland, der deutsche Ingenieur und Konsultant für weiße Magie. Iwanuschka-Durak, mal Besdomny (Hauslos), mal Besrodny (Stammlos) genannt, fühlt sich als proletarischer Dichter und „Gottbekämpfer“ provoziert und verlangt von der obersten Schaltzentrale im Kreml, daß sie gegen den „ausländischen Spion“ die „Strelitzen“ ausschickt.
In den ersten fünf Fassungen des weltberühmten Bulgakow-Romans tauchen der Meister und Margarita noch gar nicht auf. „Der schwarze Magier“, „Der Huf des Ingenieurs“ und „Der Großkanzler“ lauten die Titelentwürfe. Daß es ein Gegenwartsroman über Moskau, das „Dritte Rom“ und die „Hauptstadt der Dritten Internationale“ werden sollte, stand 1928/29 für den Autor fest. Eben so sicher schien, daß die
beiden Hauptgestalten Jesus Christus und der Teufel sein müßten, denn die Geschichte sollte in nicht allzu ferner Zukunft (1943 oder 1945, war eine Überlegung) mit einer universalen Katastrophe enden. Voland ist deswegen schon in der Urfassung nicht irgendein Unterteufel, sondern Satan persönlich, also Gottes Sohn wie Christus. Als Widersacher, Prüfer und Ankläger hat er die Rechte Jahwes gegenüber den Menschen durchzusetzen und Rechtsbeuger unnachsichtig zu bestrafen.
Iwan und Berlioz gehören zu den Ungerechten, aber wohl zu den Kleinen, von denen das Sprichwort sagt, daß sie als erste gehenkt werden. Der eine, der in der psychiatrischen Klinik landet, trägt Züge des „Prawda“-Dichters Demjan Bedny,.der 1925 in einem Poem das Neue Testament „nach dem Sachverhalt“ zu korrigieren suchte. Der andere, der seinen Kopf durch eine Straßenbahn verliert, ähnelt dem allmächtigen RAPP-Ideologen Leopold Awerbach, der auch die Zeitungen des 1925 gegründeten „Bundes der militanten Gottlosen“ lenkte. Bulgakow verabscheute die Initia-
Michail Bulgakow: Der schwarze Magier Urfassungen des Romans „Der Meister und Margarita“ Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke. Volk & Welt Berlin. 420 S., qeb., 58 DM.
toren und Eiferer der antireligiösen Propaganda. Sein Werk war - wie das von Pilnjak, Samjatin und Erdman - eine Zielscheibe für die vernichtende RAPP-Kritik. Seine Theaterstücke „Sojas Wohnung“, „Die Purpurinsel“ und „Die Flucht“ wurden verboten, die erfolgreich gelaufenen „Tage der Turbins“ kommentarlos abgesetzt. Einige Manuskripte hatte die GPU konfisziert. Bulgakow empfand die Schikanen als „literarische Hinrichtung“ und bat Stalin im Juli 1929 um seine Ausweisung. Am 28. März 1930 schrieb er in einem erschütternden Brief an die Regierung, daß er seine früheren Ansichten nicht revidieren werde und die Niederschrift eines Romans mit dem Teufel als Hauptfigur in den Ofen geworfen habe.
Majakowskis Selbstmord am 14. April 1930 und Samjatins Emigration nach Paris (1931)
gaben ihm neue Anstöße zum Schreiben. In dem Romanentwurf „Der Großkanzler“ (1932/34) tauchen schließlich die Figuren Margaritas und des Meisters auf. Am Ende des Hexensabbats, auf dem der erblindete Iwan Besdomny den Wunsch äußert, Jeschua zu sehen, bittet Margarita Voland, ihr den Autor des Buches über Jeschua zurückzugeben. Voland läßt den Dichter, „völlig verschmutzt, die Hände voller Wunden“, aus dem Lager holen, stattet ihn mit Paß und Revolver aus und bittet Margarita, sie möge dem Hilfsbedürftigen nicht nur Geliebte, sondern auch Frau sein. Den Spitzel, der den Romanschreiber ins Lager gebracht und sich in dessen Wohnung eingenistet hat, bestraft Voland. Moskau aber, das schwerbewaffnete Soldaten und Aeroplane gegen ihn und sein Gefolge einsetzt, läßt er in Flammen aufgehen. (In einem Arbeitsheft Bulgakows findet sich die Notiz: „Nostradamus. .. Weltende
1943“.)
„Hilf mir, Herrgott, den Roman zu vollenden“, notierte Bulgakow 1931 Wie wir wissen schrieb er an diesem Vermächtnis bis zu seinem Tod
am 10. März 1940. Erst Anfang 1938, als die sechste und letzte handschriftliche Fassung in Arbeit war, hatte sich der thematische Schwerpunkt vollends auf das Schicksal der beiden Liebenden verlagert. Nun stand auch der endgültige Titel „Der Meister und Margarita“ fest. Der Autor wußte zu diesem Zeitpunkt, der von zahllosen Verhaftungen und Stalins Schauprozessen überschattet war, daß keine Hoffnung bestand, einen Roman zu veröffentlichen, in dem die Kunst und die Liebe als Opfer von Unfreiheit und Gewalt auf der Stecke bleiben. Der Vergleich der verschiedenen Urfassungen mit dem Text von letzter Hand, den Volk & Welt in einer von Thomas Reschke neu durchgesehenen Übersetzung jetzt ebenfalls vorgelegt hat, läßt deutlich erkennen, wie aus einem anfänglich primär tagespolitischen Konzept ein großer künstlerischer Weltentwurf wurde. Das Voland-Evangelium, das der Satan im Moskau der „Gottbekämpfer“ Iwan Besdomny und Berlioz vorträgt, erhält die Funktion, die humanistischen Werte der mit Füßen getretenen Bergpredigt zu bewahren.
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