§116 AFG –Ausdruck der Machtverhältnisse
In Karlsruhe begann die Anhörung zum Anti-Streikparagraphen / Reaktion auf Klage von 1986 Von GÜNTHER FRECH
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe soll auf Antrag der IG Metall, der Landesregierung von NRW, 220 SPD-Abgeordneten des Bundestages und anderen feststellen, ob der Paragraph 116 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) verfassungswidrig ist. Dieser Paragraph soll angeblich die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) bei Arbeitskämpfen gewährleisten. Eng verknüpft mit dem § 116 AFG ist der Begriff „kalte Aussperrung“.
Seit 1972 fordert der DGB ein gesetzliches Aussperrungsverbot. Vorbild ist die Verfassung des Landes Hessen, hier ist die Aussperrung verboten. Die gültige Rechtsprechung besagt aber, daß Bundesrecht Landesrecht bricht. Doch ein Bundesrecht auf Aussperrung gibt es nicht. Sie hat weder in der Verfassung noch im geltenden Recht der Bundesrepublik eine Grundlage.
Der Streik ist hingegen eine von der Verfassung geschützte Grundfreiheit. Im Artikel 9 des Grundgesetzes ist das Recht auf Koalitionsfreiheit - also den Zusammenschluß von abhängig Beschäftigten zu Gewerkschaften - garantiert. Ein solcher Zusammenschluß wäre wirkungslos, wenn Gewerkschaften nicht zur Durchsetzung ihrer Forderungen das Mittel des Streiks zur Verfü-
gung stünde. Staatliche Maßnahmen zur Unterdrückung eines Streiks sind ausdrücklich verboten. Das von Unternehmern und Regierung reklamierte Aussperrungsrecht - es soll angeblich die Waffengleichheit sichern - stützt sich allein auf Richterrecht. Hinzu kommt, daß die Arbeitskampfrechtssprechung keinem ewig gültigen Rechtsprinzip unterliegt; in ihm widerspiegeln sich Machtverhältnisse.
Ein Blick zurück in das Jahr 1984. Die IG Druck und Papier und die IG Metall streikten 1 für die Einführung der 35-Stunden-Woche. Im Druckgewerbe wurde erstens den Unternehmern die Herausgabe von Notzeitungen erschwert und zweitens kein Anlaß für Aussperrungen gegeben. Bei der IG Metall wurde zunächst in Nordbaden/Nordwürttemberg
gestreikt. Nachdem die Arbeitgeber in NRW rund 200 000 Beschäftigte ausgesperrt hatten, wurde der Streik auch in Hessen ausgerufen.
Dann schlugen die Arbeitgeber zu: In der gesamten Metall- und Elektroindustrie wurden zeitweise 700 000 Menschen vor die Betriebstore geschickt. Begründet wurde dieser Schritt mit der sogenannten Fernwirkung. Mittelbar vom Streik Betroffene, die wegen fehlender Teile nicht mehr arbeiten konnten, mußten nach Hause gehen. In der Vergangenheit wurde in einem solchen Fall Kurzarbeitergeld gezahlt.
Durch diese Form der kalten Aussperrung verschärfte sich der Arbeitskampf. Mit dem „Franke-Erlaß“ (benannt nach dem damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit) wurde die Zahlung von Kurzarbeitergeld an Betroffene außerhalb des Streikgebietes verweigert. Die IG Metall mußte für die Ausgesperrten Streikunterstützung bezahlen. Vom Bundesarbeitsgericht wurde der Franke-Erlaß als rechtswidrig kassiert.
In Folge wurde dann der Paragraph 116 AFG geändert. Der wesentliche Inhalt ist: Fällt in Drittbetrieben - hier wird von der Fernwirkung gesprochen - streikbedingt die Produktion aus und liegen diese außerhalb des umkämpften Tarifgebietes, gehören aber fachlich dazu, wird kein Kurzarbeitergeld mehr bezahlt. Das Fatale: Streikt die Gewerkschaft, wie zuletzt die IG Metall in Bayern, mit Bedacht, also ohne die Produktion in anderen Betrieben zu beeinträchtigen, die Unternehmer aber zur „Angriffsaussperrung“ greifen und dadurch eine Fernwirkung provozieren, wirkt eben auch der 116 AFG. Hier greifen die Unternehmer mit dem Ziel der Entsolidarisierung in den Arbeitskampf ein. Zweierlei macht sich bemerkbar- Durch systematische Lagerverknappung wird die kalte Aussperrung von den Unternehmensverbänden als gezieltes Arbeitskampfinstrument eingesetzt; dadurch zeigen sie, daß sie im Besitz der tatsächlichen Mittel sind.
Die IG Metall bezeichnet den neugefaßten Paragraphen 116 AFG als verfassungswidrig, weil eben die Neutralität der
Bundesanstalt aufgehoben ist und zu Gunsten der Unternehmer in einen Streik eingegriffen wird. Von Seiten der Bundesregierung, vornehmlich von Arbeitsminister Blüm, der das Gesetz zu verantworten hat, wird dagegen argumentiert, daß die Waffengleichheit so erst hergestellt sei.
Es ist zu befürchten, daß sich die Richterin und die Richter um eine klare Entscheidung drücken. Wahrscheinlich wird der Bundesregierung aufgedrückt, sie solle doch bitte genau definieren, was unter „Fernwirkung“ gemeint ist.
Um einen Streik zu erschweren, haben die Gerichte in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer wieder die Grenzen zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem in Bewegung gehalten. Tarifauseinandersetzungen sind Klassenfragen, auch wenn das von Gewerkschaften nicht immer so gesehen wird. In einem Streik werden auch die Regeln für einen Arbeitskampf festgelegt. Kabinett und Kapital sind zur Zeit stärker Der politische Kampf um den 116 AFG wurde vom DGB nie ernsthaft aufgenommen.
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