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Reihenweise Todesurteile

  • Lesedauer: 6 Min.

Zur „Abschreckung und Aufrechterhaltung der Manneszucht“

Foto: ND/Archiv

Die Wehrmacht bot seit langem ihr Verfolgungspotential gegen „Versager“, „Zersetzer“ und Deserteure auf. Kriegsgerichte und Standgerichte verhängten reihenweise Todesurteile. Ihre Hilfsorgane, die Feldjägerkommandos, wurden verstärkt und zu schärfstem Durchgreifen angehalten. Vor welchem Szenario spielte sich die Todesurteilsmanie ab?

Im ersten Quartal gerieten über 500 000 Soldaten in britische und amerikanische Gefangenschaft, bis Anfang Mai schwoll die Zahl auf 4,6 Millionen an. Im Osten war die Bereitschaft, in Gefangenschaft zu gehen, geringer Aber auch dort zeigten sich massive Erosionserscheinungen. Hinter den Heeresgruppen Mitte und Weichsel mußten Auffangorganisationen entlang von Sperrlinien eingerichtet werden, gebildet aus Wehrmacht-Streifengruppen, Feldjägern, Feldgendarmerie-Abteilungen, SS-Kommandos und Offizieren der Kriegsakademie. Bei der Heeresgruppe Mitte waren unter dem Befehlshaber Feldjägerkommando II (mot.) hiermit zwei Generalleutnante und ein Generalmajor befaßt. Ähnlich sah es bei der Heeresgruppe Weichsel aus bei einer vorderen Begrenzung des Einsatzgebietes auf der Linie Grünberg-Danzig und der westlichen Linie Forst-Guben-Odermündung. Ein „hoher Anfall“ von Versprengten wurde festgestellt. Keitel maß in einem Schreiben an den Generalstab, die Heeresgruppen Weichsel, Mitte und Süd und das SS-Führungshauptamt dem Einsatz der Feldjägerkommandos kriegsentscheidende Bedeutung zu. Schlagkraft und Einsatzbereitschaft der Feldjäger seien „in der Führung unseres Schicksalskampfes“ die entscheidende Voraussetzung zur Wiederherstellung und Erhaltung der Manneszucht. Neben der Einrichtung Fliegender

Standgerichte und der Massierung von Auffangorganen suchten Hitler und OKW, die Soldaten der Ostfront selber zu Aufpassern und Polizisten bei Rückzugsbewegungen zu machen. Ein OKW-Aufruf vom 15. April 1945 verkündete: „Das Regiment oder die Division, die ihre Stellung verlassen, benehmen sich so schimpflich, daß sie sich vor den Frauen und Kindern, die in unseren Städten den Bombenterror durchhalten, werden schämen müssen. Achtet vor allem auf die verräterischen wenigen Offiziere und Soldaten... Wer euch Befehle zum Rückzug

gibt, ohne daß ihr ihn genau kennt, ist sofort festzunehmen und nötigenfalls augenblicklich umzulegen.“

Um diese Zeit standen amerikanische Verbände bei Magdeburg und Leipzig, und die Stoßkeile der Roten Armee vereinigten sich kurz darauf westlich Berlins. Die politische und militärische Führung verwandelte das Reich in einen Schlachthof für Hunderttausende. Fallen oder von eigenen Vollzugsorganen ins Jenseits befördert zu werden, bot das politisch-militärische Regime als Resultat seiner abenteuerlichen Politik an. Und die Kriegs- und Standgerichte arbeiteten bis zuletzt. Gerichtsherren der Standgerichte besaßen das Recht, Todesurteile zu bestätigen und die sofortige Vollstreckung anzuordnen. In der Endphase waren Regimentskommandeure, Kommandeure selbständiger Bataillone, ja selbst Straßen- oder Brückenkommandanten „Gerichtsherren“ Im Merkblatt über Standgerichtsverfahren, das am 15. März 1945 vom Oberkommando der Heeresgruppe B zur Belehrung dieser Gerichtsherren ausgegeben worden ist, heißt es u. a.. „Verteidiger auch bei todeswürdigen Verbrechen nicht erforderlich... Sofort Bestätigung des Urteils durch Standgerichtsherrn erforderlich... Bestätigungsverfügung lautet - z. B. ,Ich bestätige das Urteil und ordne den sofortigen Vollzug der Todesstrafe an'... Sofortige Vollstreckung des Urteils nach Bekanntgabe der Bestäti-

gungsverfügung an den Angeklagten. Todesurteile stets in der Öffentlichkeit angesichts der Truppe vollziehen!“

Die vom Chef OKW am 28. Januar 1945 erlassenen „Bestimmungen über das Verhalten von Offizieren und Mann in Krisenzeiten“ ermächtigten Gerichtsherren und Standgerichtsherren, Todesurteile gegen jedermann, auch gegen Offiziere jeden Ranges, unmittelbar zu bestätigen, „wenn die sofortige Vollstreckung der Todesstrafe zur Aufrechterhaltung der Manneszucht und aus Gründen der Abschreckung geboten ist“ Wer hier „beherzt“

durchgriff, wurde „auch dann nicht zur Rechenschaft gezogen, wenn er dabei seine Befugnisse überschreitet“

Um die Todesmaschinerie noch schlagkräftiger zu machen, wurden Führer und Unterführer verpflichtet, von der Waffe Gebrauch zu machen, „wenn die Lage oder die Manneszucht nicht anders wiederhergestellt werden kann“ Sofortiges Eingreifen wurde u. a. als besonders geboten bezeichnet, wenn Soldaten sich ohne Befehl absetzten oder sich als Versprengte nicht sofort bei der nächsten Truppe meldeten, oder wenn Führer und Unterführer „in ihrer soldatischen Haltung versagen oder sonst ihre Führungspflichten schwer verletzten“ Zahlreiche Soldaten fielen solcher Willkür zum Opfer. Zur Abschreckung hängte man sie an Straßenbäumen auf. Hierbei taten sich besonders SS-Einheiten hervor Verwundete gerieten in Verdacht, Selbstverstümmelung begangen zu haben.

Verläßliche Zahlen über die Opfer der Militärjustiz in der Endphase gibt es nicht. Die Kriminalstatistik schweigt. Auch die Selbsterhaltungsmechanismen des Regimes waren vom Auflösungsprozeß erfaßt worden. Angehörige der Feldgendarmerie erwiesen sich ihrer „verantwortungsvollen“ Aufgabe als nicht gewachsen. Vielfach gelang es nicht, Fahnenflüchtige zu fassen. So meldete die Geheime Feldpolizei-Gruppe beim AOK 19 im Ja-

nuar 1945 249 Fahnenfluchtfälle. Nur 39 Fahnenflüchtige konnten ergriffen werden. Die GFP-Gruppe 560 überstellte im Januar 1945 von 62 Festgenommenen 46 an die Heeresgerichte, 6 an den Sicherheitsdienst. Der Deserteur war der „innere Feind Nr. 1“ der Wehrmacht. In ihm bekämpfte sie zugleich den Feind von 1918, den Typus jener „dunklen Mächte“, die Ludendorff für die Niederlage verantwortlich gemacht hatte. Der wichtigste Kommentar zum Militärstrafgesetzbuch wußte: „Erfahrungsgemäß rekrutieren sich die Fahnenflüchtigen zum

größten Teil aus psychopathisch Minderwertigen, deren Anteil an der Gesamtzahl der Verurteilten sich nach ärztlichen Schätzungen zwischen 50 bis 90 v H. bewegt.“

Damit personifizierte der Deserteur geradezu modellhaft den Feind des Nationalsozialismus und des Militärs. Aber woher sollten ärztliche Schätzungen dieser Art kommen? Welchem Deserteur ist in der Hitlerwehrmacht die Aufmerksamkeit ärztlicher Begutachtung, vor allem in der zweiten Kriegshälfte, zuteil geworden?

In dieser Zeit arbeiteten die Kriegsgerichte wie am Fließband. Aber offenbar konnten sie selbst mit einer Flut von Todesurteilen die „Manneszucht“ nicht herbeizwingen. Der General der Panzertruppen Brandenberger vom AOK 19 verlangte noch am 13. April eine sofortige Vermehrung der Fliegenden Standgerichte und rücksichtsloses Vorgehen gegen alle aus der Front zurückgegangenen Soldaten, ebenso wie gegen alle „schuldhaft waffenlos“ nach hinten flüchtenden Volkssturmmänner

Doch nicht nur Standgerichte und Fliegende Standgerichte operierten im Dienste der Kriegsverlängerung, auch die „normale“ Militärjustiz wirkte einvernehmlich an dieser Aufgabe mit. Dies zeigt u. a. eine Übersicht über die in Berlin vom Fliegenden Standgericht des Befehlshabers im Wehrkreis III, vom Zentralgericht des Heeres und vom Gericht

der Wehrmachtkommandantur Berlin im Februar/März 1945 verhängten und vollstreckten Todesurteile. Die nicht vollständige Übersicht zeigt folgendes Bild:

- am 2. Februar 3 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin, am 3. Februar 13 Todesurteile durch das Zentralgericht des Heeres, am 9 Februar 15 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur, am 10. Februar 3 Todesurteile durch das Zentralgericht d. H.,aml3. Februar 6 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur, am 14. Februar 4 Todesurteile durch das Fliegende Standgericht, am 17 Februar 4 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur, am 21 Februar 6 Todesurteile durch das selbige, am 22. Februar 5 Todesurteile durch das Fliegende Standgericht, am 23. Februar 7 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur, am 24. Februar 7 Todesurteile durch das Fliegende Standgericht, am 26. Februar 8 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur sowie am 27 Februar 14 Todesurteile durch das Fliegende Standgericht - insgesamt 95 Todesurteile;

- am 1. März 8 Todesurteile durch das Fliegende Standgericht, am 3. März 13 Todesurteile durch das selbige, am 6. März 8 Todesurteile durch das selbige, am 7 März 14 Todesurteile durch das Zentralgericht d.H., am 9 März 17 Todesurteile durch das selbige, am 10. März 3 Todesurteile durch das selbige und am gleichen Tag 6 Todesurteile durch das Fliegende Standgericht, am 13. März 3 Todesurteile durch das Zentralgericht d.H., am 17 März 4 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur, am 24. März 7 Todesurteile durch das Fliegende Standgericht, am 26. März 3 Todesurteile durch das Zentralgericht d.H., am 30. März 13 Todesurteile durch das Gericht der Wehrmachtkommandantur sowie am 31. März, 3 Todesurteile durch das selbige - insgesamt 102 Todesurteile.

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